Milch der Zärtlichkeit

- | Frankreich/Belgien 2000 | 95 Minuten

Regie: Dominique Cabrera

Kurze Zeit nach der Geburt ihres dritten Kindes verlässt eine junge Frau voller panischer Angst ihre Wohnung. Sie versteckt sich bei ihrer Nachbarin, ohne ihrem Mann oder anderen Bescheid zu sagen. Innerhalb der nächsten drei Tage werden alle Beteiligten zum Nachdenken über ihr Leben angeregt. So reflektiert der Film, der vorwiegend in der Andeutung, der knappen Geste oder flüchtigen Sätzen verharrt, immer wieder die Frage, was Glück bedeutet und ob es Glück überhaupt geben kann. Eine anspruchsvolle, weit über die singuläre Krisen- und Krankheitsgeschichte hinaus reichende Studie, beeindruckend gespielt und inszeniert. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA LAIT DE LA TENDRESSE HUMAINE
Produktionsland
Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Les Films Pelléas/Les Films du Fleuve/Glem Films/RTBF/Gimages 4
Regie
Dominique Cabrera
Buch
Dominique Cabrera · Gilles Marchand · Cécile Vargaftig
Kamera
Hélène Louvart
Musik
Béatrice Thiriet
Schnitt
Francine Sandberg
Darsteller
Patrick Bruel (Laurent) · Marilyne Canto (Christelle) · Bruno Salvador (Rémi) · Antoine Bonnaire (Cédric) · Nour Gana (Cendrine)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Dieser Film bricht mit einem Tabu. Das Bild von der Frau, die nach der Geburt eines Kindes vor Glück erstrahlt, wird heftig konterkariert: Christelle, Dominique Cabréras Heldin, erlebt statt dessen eine tiefe Depression. In den Anfangsszenen ist sie ein zitterndes, hypernervöses Wesen. Marilyne Canto, die Darstellerin der Hauptfigur, verdeutlicht diesen Zustand nicht nur durch ein pausenloses Spielen mit ihren Haaren, sondern auch durch einen Blick, der stets nach innen geht, selbst wenn sie andere Menschen anschaut. „Milch der Zärtlichkeit“ ist zunächst die Geschichte einer seelischen und körperlichen Krise, einer Krankheit. Zugleich schwenkt die Regisseurin von Christelle auf deren Verwandte, Nachbarn, Arbeitskolleginnen: Das plötzliche Verschwinden der jungen Frau, die wortlos, wie in Trance aus ihrer Wohnung davonläuft, provoziert auch bei anderen, die davon berührt und tangiert werden, Momente des Innehaltens und Nachdenkens über das eigene Leben. So wird der Zuschauer durch nahezu alle Gestalten des Films mit der Frage konfrontiert, was eigentlich Glück bedeutet – und ob es Glück überhaupt gibt. Dabei malt die Regisseurin die diversen Lebensläufe nicht breit aus: Ihr Film verharrt vorwiegend in der Andeutung, in knappen Gesten, dem flüchtigen Augenaufschlag, einem selten zu Ende gesprochenen Satz. Dem entspricht die aus der Hand bewegte Kamera Hélène Louvards: eine gezielt zufällige Fotografie, die schnelle Wendungen, Blicke ins scheinbar Leere, auch Unschärfen in Kauf nimmt, weil das Scharfe, alles Wissende, alles Erklärende für diesen Fall kaum in Frage kommt. Schon zu Beginn verweist Dominique Cabréra darauf, dass bequeme, rationale Deutungen keinesfalls ihre Sache sind. Christelle verläßt die Wohnung, als sie hinter der Tür zum Badezimmer das Wasser fließen hört. Ein Geräusch, das die Frau plötzlich als Bedrohung empfindet. Sie wagt nicht einmal, die Tür zu öffnen, um nach dem in der Badewanne liegenden Baby – ihrem dritten Kind – zu sehen. Nimmt sie etwa sogar dessen Tod in Kauf? Man weiß es nicht, ahnt nur, dass in Christelles Kopf eine vollkommene Leere herrscht. Signalisiert die Tatsache, dass sie einen Zufluchtsort in der Wohnung der bisher nur vom Grüßen im Treppenhaus bekannten Nachbarin sucht, den Wunsch nach Entfernung und Nähe zugleich? Immer wieder fragt der Film nach dieser Dialektik von Nähe und Distanz, von symbiotischer Verbindung und imaginärer „Freiheit“. Zur zentralen Szene wird jener Moment, in dem Claire, die Nachbarin, eines Morgens ein Glas Milch trinkt und Christelle ihr gesteht, das sei ihre Muttermilch gewesen. Claire ekelt und übergibt sich; so viel Nähe zu dieser Frau, die sie aufgenommen und durchaus liebevoll betreut hat, kann sie nicht verkraften. Für Dominique Cabréra bedeutet diese Szene einen Schlüssel für das Verständnis von Christelles Ausbruch: Der Film weist auf die „Grenze zwischen sich und dem anderen“, also auch zwischen Mutter und Kind hin, die mit der irrationalen Flucht erstmals überschritten worden ist. Einmal fällt der Satz: „Irgendwo gibt es immer ein Problem. Warum machen wir uns unglücklich?“ Das trifft auf alle handelnden Figuren zu, deren Bewusstsein und Unterbewusstsein von ihren oft unerfüllten Sehnsüchten, den vagen Hoffnungen und sehr direkten Ängsten belastet sind. Christelles Mann beginnt zu begreifen, dass die Ehe nicht immer ideal war. Auf der Suche nach Christelle betritt er zum ersten Mal deren Arbeitsplatz, fragt ihre Kolleginnen, wer sie eigentlich sei – Indiz für Hilflosigkeit, aber auch für das Erkennen von Fremdheit trotz aller Nähe. Die Fabrikarbeiterin, die Schwägerin, der Vater, die Nachbarin, deren Freund oder der alte Arzt: Allen fehlt etwas zum erfüllten Leben. Von Geld und materiellen Gütern ist dabei nicht die Rede: Es geht um die Seele, das Herz. Nach drei Tagen kehrt Christelle zu ihrem Mann und der Familie zurück. In dieser Szene lässt Marilyne Canto die Namen der größeren Kinder wie auf der Zunge zergehen; und sie zeigt den in diesem Zusammenhang durchaus emanzipatorisch zu nennenden Akt, wie ihre Figur erstmals auch den Namen der neu geborenen Tochter über ihre Lippen bringt: Das Kind ist nicht mehr Teil von ihr, es ist „jemand anderes“ (so übrigens lautete ein Arbeitstitel des Films). Danach blickt die Kamera aus dem Fenster, auf die Häuser der Stadt und die umgebende Waldlandschaft. Das abschließende, zur freien Interpretation einladende Motiv zeigt einen tiefen Einschnitt in einer grünen Gebirgslandschaft.
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