Drama | Dänemark 2002 | 113 Minuten

Regie: Susanne Bier

Ein junger Mann, durch einen Autounfall querschnittsgelähmt, versucht, mit dem Schicksalsschlag alleine fertig zu werden, und trennt sich abrupt von seiner Geliebten. Diese findet Trost beim behandelnden Arzt, der darüber selbst in eine Lebenskrise gerät. Der nach den "Dogma"-Regeln inszenierte Film erreicht ein hohes Maß an Wirklichkeitsnähe, die durch ein starkes Ensemblespiel geradezu sinnlich erfahrbar wird. Trotz seiner Problemfülle wirkt er nie überladen, weil Buch und Regie die Handlungsstränge zwingend miteinander verbinden und so ein Meisterwerk des humanistischen Kinos schufen. (Auch O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ELSKER DIG FOR EVIGT
Produktionsland
Dänemark
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Zentropa Entertainments 4/DR TV-Drama
Regie
Susanne Bier
Buch
Anders Thomas Jensen
Kamera
Morten Søborg
Musik
Jesper Winge Leisner
Schnitt
Pernille Bech Christensen · Thomas Krag
Darsteller
Sonja Richter (Cecilie) · Nikolaj Lie Kaas (Joachim) · Mads Mikkelsen (Niels) · Paprika Steen (Marie) · Stine Bjerregaard (Stine)
Länge
113 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Highlight Video (FF, DD2.0 dän./dt.)
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Diskussion
Das „cinema vérité“ trug den Anspruch schon im Titel, aber auch der italienische Neorealismus, die französische Nouvelle Vague und das britische Free Cinema waren auf der Suche nach „Wahrheit“. Als die dänischen Filmemacher Lars van Trier und Thomas Vinterberg 1995 mit ihrem „Dogma“ -Manifest ein formales Regelwerk zur (filmischen) Wahrheitsfindung in die Welt setzten, stießen sie damit nicht nur eine neue Diskussion über den Zusammenhang von Form und Inhalt an, sondern lieferten vielen untalentierten Epigonen auch eine passable Ausrede, verwackelte und unscharfe Digitalbilder als ästhetische Neuerung hochzustilisieren. Dass Technik allein noch keine Kunst macht, vielmehr der Blick des Filmemachers auf die Geschichte und seine Figuren entscheidend ist, demonstriert „Open Hearts“ mit „dogmatischer“ Deutlichkeit. Der nach „Italienisch für Anfänger“ (fd 35 244) zweite Film einer dänischen „Dogma“-Regisseurin erzählt eine dramatische Geschichte, wie sie im Grunde an jeder Ecke auflauern könnte. Deshalb benutzen Susanne Bier und ihr „Dogma“-erfahrener Autor Anders Thomas Jensen (u.a. „Mifune“, fd 33 696) auch eine Alltagssituation, um in die Handlung hineinzuziehen: Der Student Joachim, der gerade noch mit seiner Freundin Cecilia die gemeinsame Zukunft plante, wird beim Aussteigen aus dem Auto von einem anderen Wagen erfasst. Er überlebt querschnittsgelähmt. Marie, die den Unfallwagen lenkte, fühlt sich schuldig, und bittet ihren Mann Niels, sich um Cecilia zu kümmern. Diese ist umso verzweifelter, als Joachim abrupt die Beziehung beendet, weil er ihr Leben nicht mit seiner Behinderung belasten will. Aus dem Trost entwickelt sich bald aber eine Affäre zwischen Niels und Cecilia, die dessen scheinbar glückliches Familienleben ins Wanken bringt. „Dogma“-Filme sind nicht nur eine Annäherung an die Wirklichkeit, sondern auch ein Spiel mit der Fantasie des Zuschauers: Im Augenblick des Unfalls bedarf es keines durch die Luft wirbelnden Stuntmans; Joachim ist einfach wie weggewischt aus dem Blickfeld des Betrachters. Die Kamera liest stumm in den erstarrten Gesichtern von Cecilia und ihrer Tochter, die wie paralysiert im Auto sitzen. Wenn sie die Situation dann begriffen haben, entwickelt sich die Kamera zum Komplizen ihrer Gefühle und Handlungen, indem sie die Frauen mal hautnah, mal distanziert begleitet. Dieses Einvernehmen wendet die Inszenierung auf alle Protagonisten an, die sehr nah und zugleich doch recht fern erscheinen. Was für ein Kretin, denkt man unwillkürlich, wenn Joachim sowohl Cecilie als auch die Krankenschwester mit Zynismus und Unflätigkeiten überschüttet – und spürt doch die tiefe Verzweiflung eines Menschen, der alles verloren hat. Selbst Niels‘ untauglicher Versuch, Ehe und Affäre unter einen Hut zu bringen, besitzt etwas von jener Tragikomik, die vielen allzu menschlichen Verfehlungen eigen ist. Dennoch überlässt der Film dem Zuschauer das Urteil und propagiert weder einfache Lösungen noch harmoniesüchtige Happy Ends. Obwohl „Open Hearts“ viele Probleme anspricht – vom Umgang mit einer das Leben vollkommen verändernden Behinderung über die Reaktion des Partners bis zu Ehe- und Pubertätsproblemen –, wirkt der Film nicht überladen, weil das Buch die einzelnen Handlungsstränge zwingend miteinander verbindet und die Inszenierung keinen Leerlauf aufkommen lässt. Bedingt durch die unaufwändige (Digitalkamera-)Technik, scheinen die Schauspieler den filmischen „Apparat“ um sich herum völlig zu vergessen und nähern sich auf fast naturalistische Weise der Wirklichkeit. Während Vinterbergs „Das Fest“ (fd 33 486) und Lars van Triers „Die Idioten“ (fd 33 631) noch allzu deutlich das „Dogma“-Regelwerk ausstellten, scheint Biers Umgang mit dem Regelkanon selbstverständlich zu sein. Ähnlich wie Andreas Dresen in „Halbe Treppe“ (fd 35 604) gelingt ihre die Balance zwischen unsentimentalem Melodram und leisem Humor, die den Zuschauer sinnlich ins Geschehen einbindet. So artikuliert der Filmtitel einerseits den schmerzlichen Umgang mit jenen Wunden, die man sich selbst und anderen zufügt, andererseits aber auch den Appell, sein Herz für das Leben und die Liebe zu öffnen, auch wenn die (Um-)Wege manchmal unmenschlich erscheinen. So gesehen, bereichert „Open Hearts“ die großen Meisterwerke des humanistischen Kinos um eine sehenswerte Variante.
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