Sein und Haben

Dokumentarfilm | Frankreich 2002 | 104 Minuten

Regie: Nicolas Philibert

Dokumentarfilm über eine Dorfschule in den französischen Bergen, wo zwölf Kinder zwischen vier und elf Jahren von einem Lehrer unterrichtet werden. Die oft humorvollen Begebenheiten beim Lernen und Spielen verdichten sich zu einfühlsamen Porträts der Kinder und ihres Lehrers sowie des Lebens auf dem Land, die viel Raum geben, sich an die eigene Kindheit zu erinnern. Durch seine ruhige, unprätentiöse und doch spannende Art macht der Film sensibel für die kleinen magischen Momente des Alltags. (Kinotipp der katholischen Filmkritik; O.m.d.U.) - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
ETRE ET AVOIR
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Arte France Cinéma/Les Films d'Ici/Centre National de Documentation Pédagogique/Canal +/Gimages 4
Regie
Nicolas Philibert
Buch
Nicolas Philibert
Kamera
Katell Djian · Laurent Didier
Schnitt
Nicolas Philibert
Länge
104 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
absolut (1.66:1, DD2.0 frz.)
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Diskussion
Der Wind rauscht, zwei Hirten treiben Kühe über eine Wiese – im Schnee. Ein weißes Auto fährt vorbei. Es bringt Kinder in die Schule. Bis sie dort ankommen, stellt der Film den noch leeren Klassensaal vor: hochgestellte, gelbe Stühlchen, eine am Boden kullernde Weltkugel und eine Schildkröte, die über das Linoleum krabbelt. Erst nachdem der Blick wieder nach draußen fällt, auf das Schneetreiben und eine große Tanne, die im Wind schwankt, kommt das Auto erneut ins Bild. Der Minibus holt die Kinder von zuhause ab und fährt sie durch den Wald in die Schule. „Bonjour monsieur“, sagen sie artig und gehen ins Haus. Sechs Minuten nimmt sich Nicolas Philibert Zeit, um die Zuschauer in diese abgeschiedene und doch reale Welt einer kleinen Dorfschule mitten im französischen Zentralmassiv einzuführen – ohne Dialoge oder irgendwelche Erläuterungen. Der Lehrer mit der sanften Stimme hält einen Zettel hoch, auf dem ein kaum leserliches Wort in Kindergekrakel steht. „Erkennt ihr das Wort ,maman‘?“, fragt er die Kinder. „Nein“, sagt eines der Kinder, „aber es ist trotzdem schön“. Unbeeindruckt von der Schönschreibstunde steht ein etwas älterer Junge auf dem Stuhl und versucht, ein großes Plakat aufzuhängen, ein Dritter liest in einem Buch, ein Vierter malt mit dem Filzstift. Zwischen vier und elf Jahren sind die zwölf Kinder alt, die Georges Lopez zusammen in einem einzigen Klassensaal unterrichtet. Er findet für jeden Zeit, vor allem für Jojo, der keine Geduld hat, die Tiere in seinem Malbuch bunt auszumalen. „Warum gehst du in die Schule? Nur zum Spielen?“, fragt Georges Lopez, der mit Bart, Brille und Rollkragenpulli eher wie ein lieber Onkel denn wie ein strenger Lehrer aussieht. „Um meine Arbeit zu machen“, antwortet der vierjährige Knirps, der sich dann doch nicht aufs Malen konzentrieren will und dem Lehrer später seine farbverschmierten Hände entgegenhält. Sie seien sauber, sagt er im Brustton der Überzeugung, um kurz darauf genauso souverän einzuräumen, dass sie es doch nicht sind. Doch der Lehrer schimpft nicht über das etwas schwierige Kind, sondern erklärt ihm in einem fünfminütigen Dialog, wie er seine Hände sauber bekommen kann. Es klappt, zumindest diesmal. Unter Lopez’ geduldiger Anleitung lernen die Kinder nicht nur lesen, schreiben und rechnen, sondern auch praktische Dinge wie Pfannkuchen backen und sie so in die Luft zu werfen, dass sie wieder in der Pfanne landen. Er zwingt zwei Streithähne zum Nachdenken darüber, warum sie sich schlagen, und er macht einem schüchternen Mädchen Mut, das im kommenden Schuljahr aufs Collège (Sekundarstufe I) wechseln soll, aber nicht weg will. Alles sieht Monsieur Lopez aber doch nicht, zum Beispiel die zwei Kleinen, die sich den Stuhl an den Kopierer schieben, um eine Seite aus dem dicken Buch zu kopieren, es jedes Mal anders drehen und enttäuscht sind, dass die Kopie wieder schwarz geraten ist, weil zuviel Licht durch den Deckel fällt. Philiberts Film besteht aus vielen solcher kleinen Episoden und wirkt doch wie aus einem Guss, obwohl sich die Aufnahmen über das ganze Schuljahr erstrecken – und nicht nur im Schulraum spielen, sondern auch im Garten (wo im Sommer die Bänke stehen), im Collège, wo die Großen demnächst den Unterricht besuchen, oder auch bei den Schülern zuhause. Dort lenkt Julien, einer der Streithähne, zwar problemlos einen Traktor, doch als er über seinen Mathematik-Aufgaben brütet, braucht es Papa, Oma und die anderen Erwachsene am Küchentisch, um ihm klar zu machen, dass 5 mal 6 doch nicht 25 sind. Einmal darf auch der Lehrer von sich erzählen, dass er seit 35 Jahren mit den Schülern Diktate übt, bald in Pension gehen wird und wohl auch das Schulhaus verlassen muss, in dem er wohnt. Doch der Film endet keineswegs wehmütig, sondern mit einem fröhlichen „Au revoir, monsieur“ am letzten Schultag, wenn Monsieur Lopez die scheuen Neuzugänge vorstellt, die nach den Ferien in die Dorfschule kommen – und der Blick durchs geschlossene Gitter des Schulgeländes auf einen Jungen fällt, der mit dem Rad über das Feld fährt. Trotz einfachster filmischer Mittel – vorwiegend starrer Kamera, lange Einstellungen, fast nur Originalgeräusche (Musik gibt es nur in den Landschaftsaufnahmen, die den Verlauf der Jahreszeiten dokumentieren) – hat es der 1951 in Nancy geborene Dokumentarfilmer Nicholas Philibert (vgl. fd 24/02) geschafft, mit „Sein und Haben“ den französischen Überraschungshit des Jahres 2002 zu landen: weil er auf eine distanzierte und doch direkte Art das Leben so beschreibt, dass sich jeder darin wiedererkennen kann. Dies gelang, weil er seine Filme auf intensive Vorarbeiten stützt: Mehr als die Hälfte der etwa 300 in Frankreich noch existierenden Dorfschulen hat er zuvor besucht, bis er sich für diese Schule in Saint-Etienne-sur-Usson entschied. Und dann peu à peu das Vertrauen der Kinder gewann, die irgendwann die Kamera nicht mehr registrierten, weil sie das kleine Filmteam als Teil ihrer Welt akzeptierten. Rund 1,5 Mio. Franzosen wollten diesen Ausflug ins vollkommen Unprätensiöse miterleben; vielleicht auch, weil Philibert all denen aus dem Herzen spricht, die sich auch in Zeiten der Globalisierung nach einem Stück märchenhafter Idylle sehnen, wie sie diese kleine abgeschlossene Welt der Dorfschule (noch) bieten kann.
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