In This World

- | Großbritannien 2002 | 90 Minuten

Regie: Michael Winterbottom

Ein afghanischer Flüchtling macht sich in Begleitung seines jüngeren Cousins von einem pakistanischen Lager aus auf, um illegal nach London zu emigrieren. Die strapaziöse Tour führt wochenlang durch Pakistan und den Iran in die Türkei, von wo aus beide in einem Container nach Italien verschifft werden. Ein fesselnder halbdokumentarischer Film, der die weltweite Flüchtlingstragödie personifiziert und dem Elend der illegalen Immigration ein Gesicht verleiht. Ein mit einer digitalen Videokamera aufgenommene Film vermittelt Authentizität und zwingt trotz seiner dokumentarischen Distanz zur mitfühlenden Parteinahme. (Preis der Ökumenischen Jury "Berlinale" 2003; Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
IN THIS WORLD
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Film Consortium/BBC/Film Council/Revolution
Regie
Michael Winterbottom
Buch
Tony Grisoni
Kamera
Marcel Zyskind
Musik
Dario Marianelli
Schnitt
Peter Christelis
Darsteller
Jamal Udin Torabi · Enayatullah · Imran Paracha Hiddayatullah · Hossain Baghaeian · Yaaghoog Nosraj Poor
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Sunfilm (16:9, 1.85:1, DD5.1 mehrsprachig/dt., DTS dt.)
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Diskussion
Es ist schon erstaunlich: Seit seinem Debüt „Butterfly Kiss“ (fd 31 424) legt der britische Regisseur Michael Winterbottom fast jährlich einen Film vor und wird nicht nur weltweit zu Festivals eingeladen, sondern heimst allerorten auch Preise ein. Auffällig ist, dass es kaum Konstanten in Winterbottoms Werk gibt: Mal liefert er Melodramatisches („Go Now“, fd 32 994) und setzt seine Zuschauer einem intensiven Beziehungsdrama aus, dann heißt es „Welcome to Sarajevo“ (fd 33 177), womit man sich mitten im Bosnien- Konflikt befindet; vier Filme später taucht Winterbottom mit „Das Reich und die Herrlichkeit“ (fd 35 139 in einen Spätwestern ein, dann folgt der Sprung in die englische Punk- Szene der 1980er-Jahre und die Welt der „24 Hour Party People“ (2002). Bei Winterbottom kann man sich des Sujets nie sicher sein, doch eines ist gewiss: seine ebenso dramatischen wie intimen Geschichten lassen den Zuschauer nicht kalt, sondern wecken Emotionen.

Das gilt in besonderem Maße auch für sein jüngstes Werk: „In this World“ ist mit digitaler Technik aufgenommen, was eine größtmögliche Nähe zulässt, gleichzeitig aber auch eine dokumentarische Distanz wahrt, um mit einem kleinen Team effizient und schnell zu arbeiten. Durch optische Verfremdungen unterstreicht Witterbottom zusätzlich die Authentizität der Migrationsgeschichte und bringt durch eine scheinbar spontan eingesetzte Handkamera das Leben auf der Flucht bedrängend nahe. „In this World“, auf der „Berlinale“ 2003 mit dem „Goldenen Bären“ und dem „Ökumenischen Preis“ ausgezeichnet, beschreibt den Leidensweg zweier afghanischer Flüchtlinge, des Jungen Jamal und seines erwachsenen Begleiters Enayatullah, die von ihren Clans auserkoren werden, im fernen London das Überleben ihrer Familien zu sichern. Doch in England wartet niemand mit offenen Armen; das Unterfangen ist „illegal“. Das heißt, die beiden sind Schlepperbanden ausgeliefert, die sie auf verschlungenen Pfaden ins gelobte Land schleusen sollen. Für Geld lassen sich helfende Hände allemal finden, auch wenn diese Hilfe das gesamte Familienvermögen verschlingt, ohne dass eine Gewährleistung fürs Gelingen gegeben wäre.

So werden die Cousins vom pakistanischen Flüchtlingslager nahe Peshawar in den Iran gebracht, immer in Sorge, den Behörden ins Netz zu gehen und wieder zurückgeschickt zu werden. Während Jamal, der ein paar Brocken Englisch spricht, ein gesundes Misstrauen gegenüber jedem an den Tag legt, fügt sich Enayatullah schicksalsergeben in die Reise, erträgt die Willkür von Polizei und Militärs und auch die Menschenverachtung der Schlepper. Sie sind schon weit gekommen, als iranische Polizisten sie als Flüchtlinge ohne Papiere identifizieren und zurückschicken. Weniger später machen sie sich erneut auf den Weg. Diesmal gelingt es, heimlich nach Teheran kommen, wo sie lange Wochen auf ihre Weiterreise warten müssen. Freundlichkeit widerfährt ihnen erst ein einem Bergdorf in Kurdistan, doch das bescheidene Glück ist nur von kurzer Dauer; der nächtliche Marsch über die verschneiten Berge in die Türkei erweist sich als beinahe mörderische Falle. Endlich ist Istanbul erreicht, doch auch hier heißt es zunächst wieder Warten. Dann beginnt der beschwerlichste Teil des Reise. Zusammen mit anderen Flüchtlingen werden Jamal und Enayatullah in einen Container eingeschlossen und nach Italien verschickt; ein 40-stündiger Horrortrip ohne Licht, Wasser, Nahrung oder genügend Luft. Jamal gelingt es, sich bis zum französischen Flüchtlingslager Sangatte durchzuschlagen und als blinder Passagier auf der Achse eines Lastwagen den Kanaltunnel zu durchqueren. Endlich in London ruft, er seine Familie an. Auf die Frage nach seinem Cousin heißt es lapidar: „Er ist nicht mehr in dieser Welt.“

Ein tragisches Unglück im Juni 2000, damals starben 58 chinesische Flüchtlinge, die illegal nach Großbritannien einreisen wollten, inspirierte Winterbottom zu diesem Film, dessen Entschluss, die leidvolle Odyssee in Pakistan beginnen zu lassen, durch die Ereignisse des 11. September 2001 noch bestärkt wurde. Gedreht wurde mit einer kleinen digitalen Videokamera ohne Licht, mit Laien und an Originalschauplätzen. Das verleiht dem Film eines spröde Oberfläche, stärkt aber den Authentizitätsanspruch, der durch die unmittelbare Nähe zu den Protagonisten zusätzlich unterstrichen wird. Es entsteht der Eindruck eines dokumentarischen Berichtes, dessen Sogwirkung sich der Zuschauer kaum entziehen kann, da die Kamera die beiden Cousins kaum von den Fersen weicht, sondern deren Leiden und Ausgeliefertsein schmerzhaft erfahrbar macht. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass beide Darsteller vorher noch nie zuvor aus Pakistan heraus gekommen sind, sie also ihre beschwerliche Reise in Bussen, Sammeltaxis, eingepfercht zwischen Schafen, unter Apfelsinenkisten versteckt, als durchaus real empfanden. Dabei vermeidet es Winterbottom, die Schlepper zu dämonisieren; er zeigt sie schlicht als eiskalte Geschäftemacher.

Doch Winterbottom bricht diese Realitätsebene durch kleine Einsprengsel und Beobachtungen am Rande. So wird der Fluchtweg immer wieder, wie in einem Expeditionsfilm aus den 1950er- Jahren, auf einer Landkarte eingezeichnet; gelegentlich zeigt er die Flüchtlinge von hinten, wie sie sehnsüchtig in die Ferne, Richtung England, dem Land ihrer Träume, blicken. Bei jeder Station der Monate langen Flucht rückt Michael Winterbottom Frauen ins Bild. Beobachtet sie unauffällig, zeigt sie jenseits der landesüblichen Klischees, nutzt einen frechen, touristischen, mitunter sogar „sexistischem“ Blick, um ihre Stellung im jeweiligen Land auszuloten, womit er auch ein wenig mit dem Vorurteil der Schleier tragenden Untertanen aufräumt. Es ist seine erklärte Absicht, die Trennung zwischen politischen und ökonomischen Flüchtlingen zu verwischen und das pure Elend der wochenlangen Torturen in den Mittelpunkt zu stellen, damit jeder sehen kann, was Menschen „In this World“ auf sich nehmen, um ihrer als hoffungslos empfundenen Situation zu entkommen. Deswegen sieht man auch immer wieder Bilder von lachenden Kindern, die überall auf der Welt die gleichen Wünsche und Bedürfnisse haben – und doch die Flüchtlingsströme von morgen speisen werden. Wie durchlässig dabei die Grenze zwischen Fiktion und Realität ist, mag auch die wahre Geschichte von Jamal belegen. Der hatte sich nach Fertigstellung des Films von Pakistan aus auf die Reise nach London gemacht und „seinen Film“ noch einmal inszeniert, nun allerdings im richtigen Leben.

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