Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr

- | Frankreich 2001 | 95 Minuten

Regie: Claude Lanzmann

Am 14. Oktober 1943 wagten die Gefangenen des Vernichtungslagers Sobibor den Aufstand, was vielen die Flucht ermöglichte. Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms von Claude Lanzmann steht der damals 16-jährige Yehuda Lerner, der das Fanal zum Widerstand gab. Durch einen begabten Erzähler, die geschickte Variation von Einstellungsgrößen und gelungene Bildmetaphern wird die Statik des Sujets aufgebrochen; so verdichtet sich der Film zu einem historischen Thriller, der den Beweis antritt, dass sich die KZ-Häftlinge vereinzelt doch gegen ihre Mörder zur Wehr gesetzt haben. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SOBIBOR, 14. OCTOBRE 1943, 16 HEURES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
France 2 Cinéma/Les Films Aleph/Why Not
Regie
Claude Lanzmann
Buch
Claude Lanzmann
Kamera
Caroline Champetier · Dominique Chapuis
Schnitt
Chantal Hymans · Sabine Mamou
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Heimkino

Der Film ist Bestandteil der DVD-Edition "Shoah Fortschreibungen", die auch noch Lanzmanns Filme "Ein Lebender geht vorbei" (1999), "Der Karski-Bericht" (2010) und "Der Letzte der Ungerechten" (2013) enthält.

Verleih DVD
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Diskussion
Am Ende ein schwarz-weißer Rollabspann. Monoton werden minutenlang Ortsnamen und Zahlenkolonnen verlesen. Die Zahlen addieren sich auf über 250.000 jüdische Opfer, die bis zum 14. Oktober 1943 im polnischen Vernichtungslager Sobibor ermordet wurden. Anders als in seinem berühmten Filmdokument „Shoah“ (fd 25 510), der fast zehnstündigen Elegie über die Vernichtung der europäischen Juden, rafft Claude Lanzmann nun die Zeit, muss sie raffen, denn nicht der bürokratisch durchorganisierte Völkermord steht im Mittelpunkt, der mit langsamen Kamerafahrten ausgelotet wird, sondern eine punktgenau geplante Gegenwehr. Der einzige erfolgreiche Aufstand in einem Vernichtungslager bildet das Zentrum des neuen Films und leiht ihm seinen Namen: „Sobibor“. Mit ihm will Lanzmann auch mit dem historischen (Vor-)Urteil aufräumen, dass sich Juden während des Holocaust wehrlos zur Schlachtbank hätten treiben lassen. Im Zuge seiner „Shoah“-Recherchen war Lanzmann auf Yehuda Lerner gestoßen, einen polnischen Juden, der nicht nur zahlreiche Fluchtversuche auf dem Weg nach Sobibor, sondern das Lager überlebte und insofern Geschichte schrieb, weil er als 16-Jähriger den Mythos der Unüberwindbarkeit des Nazi-Terrors zerstörte. Im Wissen, dass er und seine Gefährten, meist jüdische Angehörige der Roten Armee, die als Kriegsgefangene ins Lager kamen, den Tod in der Gaskammer zu erwarten hatten, schmiedeten Lerner und seine Kameraden einen ausgeklügelten Fluchtplan, der sowohl auf die Eitelkeit der deutschen Offiziere als auch deren preußische Pünktlichkeit spekulierte. Am 14. Oktober 1943 erschlug Lerner zwei SS-Männer mit einer Axt während einer Kleideranprobe in der Baracke des Lagerschneiders. Seine Tat war das Fanal für eine Flucht, die auch das ukrainische Wachpersonal nicht verhindern konnte. Ein erfolgreiches Unterfangen, das nicht nur den Beteiligten das Leben rettete, sondern noch andere Dimensionen hatte – nach dem 14. Oktober spielte Sobibor in den Vernichtungsplänen der Nazis keine Rolle mehr. Lanzmann lässt Lerner die Chronologie der Ereignisse referieren. Lerner erzählt auf Hebräisch, die Übersetzerin formuliert in Französisch, manchmal stellt Lanzmann mit seiner sanften Stimme neugierig-staunende Zwischenfragen. Um die ungeliebten „talking heads“ zu vermeiden, variiert Lanzmann ständig die Einstellungsgröße und macht die Kamera quasi selbst zum atemlosen Zuhörer, die das Gehörte kaum fassen kann. Hinzu kommt, dass er in Lerner einen fantastischen Erzähler gefunden hat, der die Minuten in der Baracke gestenreich zum Thriller verdichtet und voller Stolz erzählt, wie seine Axt dem Wachmann Greischutz den Schädel spaltete. Noch nach bald 60 Jahre wird Lerners Freunde spürbar, an diesem Tag im Oktober 1943 gegen 16 Uhr das „Richtige“ getan zu haben. Bereits zu Beginn des Films findet Lanzmann zwei eindringliche Bildmetaphern, die die beiden Ebenen des Films, Vernichtung und Aufstand, spiegeln. Zunächst sieht man eine Schar sich panisch gebärender, laut schreiender Gänse. Diese wurden in Sobibor gehalten, damit ihr Geschnatter es dem Wachpersonal erleichterte, die Schreie der sterbenden Menschen zu überhören. Wenig Sekunden später sieht man dieselbe Gänseschar. Doch nun hat sie sich zu einem perfketen Kreis formiert, der unentwegt um den eigenen Mittelpunkt zirkuliert, eine Masse von Leibern, die sich selbst Schutz gewährt. Lanzmann ist sich der Ausnahmesituation seines „Sobibor“-Films bewusst. Er will Geschichte weder umschreiben noch umdeuten, aber dennoch zeigen, dass es einen erfolgreichen Aufstand der Juden gab, der, wenn auch nur eine Marginalie innerhalb der Massenvernichtung, ein Zeichen setzte. P.S. An die 250.000 Opfer und den Aufstand, dem 300 Menschen ihr Leben verdankten, wurde auch schon in Form eines Fernsehfilms gedacht. Der Engländer Jack Gold inszenierte „Sobibor” (fd 26 945) 1987 als amerikanisch-jugoslawische Co-Produktion nach einem Roman von Richard Rashke.
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