Eigentlich wollte ich Förster werden - Bernd aus Golzow

- | Deutschland 2002 | 140 Minuten

Regie: Barbara Junge

Das achte Langzeitporträt von Barbara und Winfried Junge über die Kinder aus Golzow ist Bernd Oestreich gewidmet, der gerne NVA-Offizier geworden wäre, aber nicht in die SED eintrat und deshalb in einer Raffinerie arbeitete. Gewohnt souverän verschränkt der Dokumentarfilm Vergangenes und Gegenwart, wobei sich hinter dem Wechsel der Zeiten und Systeme die Normalität des Provinzalltags als übergreifendes Element offenbart. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
à jour/ORB/SFB
Regie
Barbara Junge · Winfried Junge
Buch
Barbara Junge · Winfried Junge
Kamera
Hans-Eberhard Leupold · Harald Klix
Musik
Gerhard Rosenfeld
Schnitt
Barbara Junge
Länge
140 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
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Diskussion
„Die Gesichter, das Privatleben der Golzower, scheint man zu kennen. In dieser vermeintlichen Nähe ähnelt das Junge-Porträt heutigen Dokumentar-Seifenopern wie ‘Big Brother’ oder ähnlichen Formaten und trifft damit Bedürfnisse der Zuschauer nach persönlicher Bindung“, wird im Pressetext zeitgemäß für den jüngsten Film von Barbara und Winfried Junge geworben. Doch wie sein Vorgänger „Ein Mensch wie Dieter – Golzower“ (fd 34 163) hat das achte Langzeitporträt eines der Kinder von Golzow mit Reality-TV wenig gemein – außer eben, dass diese längste Langzeitbeobachtung der Filmgeschichte dem Zuschauer eine über die Jahre gewachsene Vertrautheit mit dem Personal und ein Gefühl der Kontinuität vermittelt, und das trotz oder gerade wegen all der Brüche und Windungen der Geschichte, die hier registriert und an konkreten Lebensläufen besichtigt werden. Persönliche Erlebnisse und gesellschaftliche Ereignisse bildeten seit Drehbeginn 1961, im Jahr des Mauerbaus, komplementäre Größen der Golzow-Reihe. Was früher aber der ideologischen Vorgabe geschuldet war, nämlich das Heranwachsen des „Neuen Menschen“ im Arbeiter- und Bauernstaat zu dokumentieren, dient heute dem Abgesang auf die DDR. Das Filmmaterial fügt sich zu einem Fundus an Beobachtungen, Erinnerungen und Zeitdokumenten, widergespiegelt im Erleben unterschiedlicher Menschen, deren (banaler) Alltag zu einem Modellfall für die Zeitläufe komprimiert werden kann – ohne das Privatleben der Protagonisten voyeuristisch auszubeuten. Nach wie vor besteht die Unverwechselbarkeit des Projekts in seinem Charakter einer „work in progress“: zeitsynchron die Verhältnisse und Befindlichkeiten in einer Filmbiografie zu kommentieren. Der weitgespannte zeitliche Bogen erlaubt es, Lebenssituationen kontinuierlich zu erkunden oder aber mittels der Montage aus der Distanz zu reflektieren. In ihrem jüngsten Film gelingen den Junges so Einblicke hinter die Fassade der Zeit, die eine beständige „Normalität“ des deutschen Provinzalltags offenbaren, diesmal in Gestalt eines wenig aufregenden Charakters, ist doch Bernd Oestreichs Vita trotz historischer Verwerfungen geradlinig verlaufen: Nach kurzen Irritationen in seiner Jugend wurde er Meister in einem petrochemischen Werk, wo er seinen Platz bis heute behauptet. Auch wenn er „eigentlich Förster“ werden wollte, erklärte sich Bernd zur Laufbahn eines Offiziers bereit, um Abitur machen zu können. Seine Mutter, Apothekerin im Dorf, hätte es lieber gesehen, wenn er in die Wissenschaft gegangen wäre. Damals begründete der 14-Jährige seine Entscheidung damit, „dass ja noch nicht auf der ganzen Welt Frieden und Sozialismus herrschen, da muss man auch dazu beitragen“. Im Herbst 1989 bekennt er als 36-Jähriger, dass er den Werbungen, in die SED einzutreten, mit dem Argument widerstanden habe, nur einer kommunistischen Partei beitreten zu wollen. Pragmatisch und bedächtig, wie er ist, machte er das Beste aus der prekären Lage, verzichtete aufs Abitur und ging nach Schwedt an der Oder, wo eine Raffinerie für sowjetisches Erdöl entstand. Eine von der Wiege bis zur Bahre vorbestimmte Existenz nahm ihren Lauf: Heirat, Kinder, zugeteilte Neubauwohnung, kleine Datsche auf dem Lande. Inzwischen werden die Plattenbauten mit Fördergeldern abgerissen – wegen dramatischer Entvölkerung. Die Töchter leben ihr eigenes Leben in Berlin und Hamburg; Bernds Frau Petra ist seit Jahren arbeitslos, fühlt sich wie viele nicht gebraucht. Als Wende-Verlierer versteht sich das Paar dennoch nicht. Schließlich verdient Bernd gut; ein neues Auto und Auslandsurlaube machen vieles wett. Dass nicht nur die jeweiligen Möglichkeiten die Ansprüche der Menschen formen, sondern auch die Sozialisation in einem autoritären Staat Spuren in ihrer „Weltanschauung“ hinterlässt, wird im Kontrast der Zeitläufe sichtbar: Zu DDR-Zeiten schweigen sich Petras Kollegen zu ihrer Integration in der Arbeitskolonne aus, wie sie es nach der Wiedervereinigung zu den neuen politischen Verhältnissen tun. Befragt nach der eigenen Zukunft, stammeln sie hilflose Antworten, die wie früher „weisungsgemäß“ klingen. Auch die Bilder von einem Treffen der „Jugend der Welt“ am Alexanderplatz sind noch nicht ganz verklungen, als Petra 1980 von ihrer Angst erzählt, „wegen der Ausländer“ allein in Schwedt auszugehen, während Bernd zu einer Militärübung einrückt. Ob latente Ausländerfeindlichkeit oder Autoritätsgläubigkeit: auch Bernds Vergleich der Bundeswehr mit einem Lachverein wirkt befremdlich. In einer Rückblende sieht man ihn später bei einer NVA-Einheit zur Bekämpfung chemischer Waffen pflichtbewusst Panzer waschen – es ist das Solidarnosc-Jahr in Polen. Um die „typische Durchschnittlichkeit“ filmisch zu strukturieren, setzten die Junges ein Gespräch zwischen Bernd und seinem Vater, das sie 1995 während eines Angelurlaubs in Norwegen aufnahmen, als dramaturgische Klammer ein. Ein Griff, der nicht zuletzt die Schlüsselrolle verdeutlicht, die die Beziehung zwischen Vater und Sohn in Bernds Leben spielt. Horst Oestreich war in der DDR in einer gehobenen Position tätig, als Hauptökonom im größten Agrarbetrieb Europas – eine starke Autoritätsperson. Neben ihm wirkt Bernd wie ein kleiner Junge, als er nach drei Jahrzehnten Brechts Kinderhymne „Anmut sparet nicht noch Mühe“ am Ende des Films singt: das Lied aus dem Musikunterricht in Golzow, das er als Kind in „Lebensläufe“ (1981) intoniert hat.
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