Mein erstes Wunder

- | Deutschland 2002 | 95 Minuten

Regie: Anne Wild

Während eines Urlaubs an der Ostsee freundet sich ein elfjähriges Mädchen mit einem Handelsvertreter an, dessen Fabulierlust es fasziniert. In ihm findet es nicht nur den ersehnten Vaterersatz, der Mann spricht auch Gefühle in ihm an, denen sich das Mädchen noch nicht bewusst war. Eine sensibel aufgebaute Geschichte mit raffinierten Bildkompositionen, die von überzeugenden Darstellern getragen wird und sich in ihrem kommentarreichen Geflecht aus kindlicher Charakterstudie, Weltflucht-Melancholie und der Hoffnung auf eine bessere Existenz jenseits der Alltagszwänge zu einem Glücksfall fürs deutsche Kino verdichtet. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Jost Hering Filmprod./SWR
Regie
Anne Wild
Buch
Anne Wild
Kamera
Wojciech Szepel
Musik
Nicholas Lens
Schnitt
Dagmar Lichius
Darsteller
Henriette Confurius (Dole) · Leonard Lansink (Hermann) · Juliane Köhler (Franziska) · Gabriela Maria Schmeide (Margot) · Devid Striesow (Philipp)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Nighthawks (1.85:1, DD5.1 dt., DTS dt.)
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Diskussion
Ein elfjähriges Mädchen ist verschwunden. Obendrein noch in Begleitung eines 30 Jahre älteren Mannes, der sich mit dem Ausbruch aus seinem unspektakulären Dasein einen letzten großen Lebenstraum erfüllt. Was daraus in Boulevard-Blättern für eine Skandalgeschichte erwachsen könnte, kann man sich lebhaft vorstellen; die zwangsläufig-zwanghaft assoziierten erotischen Implikationen wären ein serientauglicher Stoff, zumal man sich wahlweise an der Frage nach dem rücksichtlosen „alten“ Verführer oder der kindlichen, naiv-verruchten Lolita delektieren könnte. Von all dem ist Anne Wild mit ihrem ersten langen Kinofilm meilenweit entfernt. Ihre ebenso lebendig wie sensibel erzählte Freundschaftsgeschichte, mit außergewöhnlicher poetischer Kraft zu einem nahezu meditativen Märchen um Zuneigung, Geborgenheit und kreative Fantasie verdichtet, macht ganz im Gegenteil deutlich, dass kleinkarierte, prüde von Voyeurismus und Sensationsgier geprägte Sichtweisen nur zu fatalen Vor- und Fehlurteilen führen. Jeder unvoreingenommene Blick auf die wahren Empfindungen, auf Träume, Wünsche und Sehnsüchte junger, aber auch älterer Menschen wird dadurch verstellt, die Chance auf ein Einfühlen sowohl in andere Menschen als auch in sich selbst vertan. Von „heikel“ kann demnach bei „Mein erstes Wunder“ nur gesprochen werden, wenn man selbst einen „falschen Zungenschlag“ an den Film heranträgt, dem er in seiner spielerischen Leichtigkeit selbst nie verfällt. Eine narrative Chronologie im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Verschiedene Handlungs- und Zeitebenen kreuzen sich, sind teils lange Rückblenden, teils kontemplative Tagträume, destilliert vor allem aus jener Leidenschaft, ja Obsession für Wasser und fürs Meer, die die elfjährige Dole so intensiv empfindet. Vieles entwickelt sich aus ihrer nicht mehr ausschließlich kindlichen (Innen-)Sicht: Mädchenhafter Charme wechselt mit rebellisch-aufbrausender, ungebändigter Lebensgier sowie renitenter Bockigkeit und Verweigerung gegenüber der allzu flüchtigen Behandlung durch ihre unverständige Mutter Franziska, die sich nach einer neuen festen Liebesbeziehung sehnt und ausschließlich daran ihre eigene Selbstbestätigung festmacht. Dass sich Dole während eines Ostseeurlaubs mit Franziska und deren neuem Geliebten eher langweilt und dabei zugleich unterbewusst nach einer Vaterfigur sehnt, von der sie ernst genommen wird und die ihr zugleich schmerzlich vermisste Geborgenheit gibt, führt sie zur Annäherung mit dem Handelsvertreter Hermann, der mit seiner Frau und den Stiefkindern ebenfalls Urlaub am Meer macht. Hermanns Geschichten und Fantasien, für ihn eher Wirklichkeitsflucht, fesseln Dole als fabulierfreudige Anregung ihrer Fantasie und lassen das ungleiche Paar zu Verbündeten werden. Auch über den abrupt und im familiären Streit beendeten Urlaub hinaus hat diese Freundschaft Bestand – bis Dole sogar eines Tages vor Hermanns Wohnung steht und ihn auffordert, mit ihr auf- bzw. auszubrechen. Franziska und Hermanns Frau Margot bleibt nur übrig, den Verschwundenen nachzureisen, vereinzelt Spuren von ihnen wahrzunehmen, aber auch ein wenig über sich selbst nachzudenken. Dole und Hermann wiederum werden vorübergehend zu Fantomen, zu flüchtigen Spiegelbildern, die sich nur noch in Fenstern von Geschäften und Straßenbahnen reflektieren. Doch ihre idyllische, von Glück und tiefer Zuneigung geprägte Zweisamkeit stößt schließlich doch an ihre natürlichen Grenzen. Es ist eine selten gewordene Qualität des deutschen Kinofilms, dass er sich nicht im prosaischen Abhaken und Aneinanderreihen einzelner Handlungsteile erschöpft, sondern sich auf die Kraft und Suggestivität von Bildern und ihrer Montage verlässt, quasi Stimmungen und Atmosphären kreiert, zu einer eigenen visuellen „Sprache“ findet. Anne Wild verfügt über eine solche souveräne (in diversen hervorragenden Kurzfilmen erprobte) Kompetenz, sodass sie ihre Geschichte mehr über suggestive Metaebenen, raffiniert aufgebaute Bilderkompositionen und kommentarreiche Montagen zu vermitteln versteht als über die äußere Handlung. Ebenso spielerisch wie beherrscht durchgestaltet, flicht sie ein Traumgespinst aus kindlicher Charakterstudie, Weltflucht-Melancholie und der schönen Utopie, dass es jenseits aller Zwänge des Lebens doch so etwas wie eine „bessere, schönere“ Existenz geben müsste. Die junge Henriette Confurius als Dole ist Dreh- und Angelpunkt, flankiert von präzise spielenden Erwachsenen, die dabei nie gegenüber dem formalen Gestaltungswillen der Regisseurin dominieren; vor allem Leonard Lansink gelingt faszinierend der Spagat zwischen naiv-verträumtem Außenseiter und sehnsuchtsvollem Fantasten, zwischen verständigem Ersatzvater und erster erotischer Projektionsfläche für die frühpubertären Anflüge Doles, denen er sich nicht immer ganz vorbehaltlos zu entziehen weiß. Gegen Ende übertreibt Anne Wild die symbolische Aufgeladenheit mancher Szene ein wenig und suggeriert etwas zuviel an Bedeutungsschwere; das absehbare, zwangsläufige Ende der Loslösung und Trennung kommt zudem etwas zu dramatisch aufgedonnert daher, ohne freilich verquast oder sentimental zu werden. Insgesamt hat der Filmtitel nicht nur in Bezug auf Doles Wahrnehmungen seine Berechtigung, sondern auch auf die junge Regisseurin selbst – auch ihr Film ist ein schönes „erstes Wunder“.
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