Dokumentarfilm | Russland 2002 | 80 Minuten

Regie: Viktor Kossakowski

Beobachtungen alltäglicher Ereignisse auf einer Straße in St. Petersburg, die der Regisseur im Lauf eines Jahres vom Fenster seiner Wohnung aus dokumentiert. Im Mittelpunkt der spärlichen Handlung stehen Straßenbauarbeiten, in deren Verlauf sich ein geringfügiger Schaden zu einer kapitalen Baumaßnahme auswächst. Der poesievolle Dokumentarfilm nimmt durch leichte Verfremdungseffekte slapstickhafte Züge an und verdichtet sich zur Kritik an einer Gesellschaft, die vom Chaos regiert wird, während die Dinge ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TISHE!
Produktionsland
Russland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
St. Petersburg Documentary Film Studios
Regie
Viktor Kossakowski
Buch
Viktor Kossakowski
Kamera
Viktor Kossakowski
Musik
Alexander Popov
Schnitt
Viktor Kossakowski
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Man muss einiges voraussetzen, um sich Victor Kossakovskys Film vorbehaltlos zu nähern, um für seinen mannigfaltigen Charme empfänglich und seine hintergründigen Anspielungen offen zu sein. „Pssst!“ ist ein Stummfilm, besser: ein Film ohne Dialoge, nur mit Geräuschen, Tönen und Musik. Der Eindruck des Stummfilms wird dadurch verstärkt, dass viele Szenen des Films mit einer schnelleren Projektions- als Aufnahmegeschwindigkeit wiedergegeben werden, was den Effekt hat, dass sich die Menschen ausnahmslos etwas zu schnell und abgehackt bewegen, wie man es eben aus Stummfilmen kennt. Das verleiht „Pssst!“ eine gehörige Portion Slapstick, was durchaus gewollt ist; denn die Szenen, die der Regisseur während eines Jahres aus dem Fenster seiner Eckwohnung auf einer Straße in St. Petersburg beobachtete, sind zwar zu erkennen, aber zunächst nicht in ihrer intendierten Absicht zu begreifen.

Inspiriert von E.T.A. Hoffmanns Novelle „Meines Vetters Eckfenster“ schaut Kossakovsky dem Treiben vor seiner Nase zu, beobachtet den Alltag, verändert die Perspektive und den Blickwinkel, die Einstellungsgröße und den Bildausschnitt, mehr aber tut er nicht. Er zeichnet auf und verfremdet dabei. Alles fängt ganz normal an, mit Straßenarbeiten vor Kossakovskys Haustür. Ein Fahrbahnschaden soll gehoben werden. Eine Fräse schneidet die Fahrbahndecke auf, Schutt wird abtransportiert, Arbeiter bringen heißen Asphalt aus, eine Planierwalze erledigt den Rest. Alltägliche Verrichtungen eben, nur dass sich die Arbeiter so seltsam bewegen. Dazwischen Szenen mit Nachbarn, die den Müll hinausbringen, ihre Hunde ausführen oder sie verprügeln, einem (liebes-)trunkenen Paar, das im strömenden Regen durch die tiefen Pfützen einer gerade noch einsehbaren Nebenstraße watet. Irgendwo im Off fallen ab und zu Schüsse, irgendwann findet ein (gestellter?) Polizeieinsatz direkt vor dem Fenster statt. Der Wechsel der Jahreszeiten rundet den Film. Doch nicht nur dieser. Als roter Faden und weiteres Slapstick-Element ziehen sich immer wieder Bauarbeiten an derselben schadhaften Stelle durch den Film. Ständig werden mehr Arbeiter eingesetzt, deren Verhalten von zunehmender Ratlosigkeit geprägt ist, immer schwerer wird das Gerät und immer größer der Schaden. Bald ist die Kanalisation in Mitleidenschaft gezogen (oder war sie von Anfang an Verursacher des zu kaschierenden Schadens?), dann gerät das Haus gegenüber in Mitleidenschaft. Allmählich wird klar: Man ist nicht länger Zeuge einer Arbeitsmaßnahme, sondern Beobachter eines Krieges, den eine anonyme Macht, deren Rekruten als Arbeiter getarnt sind, gegen die Dinge führen. Dinge freilich, die eine Eigendynamik entwickeln und der Bürokratie den Kampf angesagt haben. Am Ende ist die Straße mehr oder weniger geflickt, eine Frau kommt mit ihren Kindern vom Einkauf zurück, flüstert mehrmals „Tishe!“ („Pssst!“), die einzigen Worte, die man deutlich hört.

„Pssst!“ ist ein Film, der mit ebenso spärlichen wie klugen Mitteln weit über die Grenzen einer herkömmlichen Dokumentation hinausgeht, wobei er mit Referenzen arbeitet, die nicht nur filmgeschichtliche Bezüge haben. Durch den eingeschränkten Blickwinkel wird immer wieder ein Sackgassenschild ins Bild geschoben, das signalisiert, dass man bald an einem Endpunkt angelangt ist. Kossakovsky hat seinen Film nach dem Prinzip einer „Babuschka“ angelegt, weil immer auf Weiteres verwiesen wird, je mehr man ins Innere vordringt: Oblomow trifft Kafka trifft Buster Keaton trifft Hitchcock trifft Jacques Tati. Sie alle werden zu Beobachtern, die angesichts einer scheinbar immer fremderen Welt mit Hilf- und Ratlosigkeit reagieren, ebenso Opfer einer undurchschaubaren Bürokratie wie den vermeintlichen Tücken des Objekts ausgesetzt. „Pssst!“ ist ein ebenso poetischer wie subtil gesellschaftskritischer Film, der indes auch Gegenentwürfe bietet. Angesichts chaotischer Zustände scheinen es die Dinge selbst zu sein, die nach Ordnung streben. Fallendes Laub sucht seinesgleichen und verwirbelt sich zu komplexen Laubstrukturen, Schneeflocken tun es ihm nach, sogar Autoabgase scheinen eine gewisse Ordnung anzustreben, sich außerhalb von Gesetzmäßigkeiten nicht wohl zu fühlen. Diese Bilder zeigen, dass der Mensch für den Lauf der Dinge durchaus entbehrlich ist. Vielleicht kommt ihm ja eine Rolle als Träumer zu. Noch so ein Slapstick-Element: Da steht ein Mann mit einem riesigen Blumenstrauß vor der Tür und wartet. Auf seine Frau, seine Geliebte, seine Mutter? Hoffentlich wird er abgeholt!

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