What Time Is It There?

- | Taiwan/Frankreich 2001 | 115 Minuten

Regie: Tsai Ming-liang

Ein junger Uhrenverkäufer aus Taipeh wird mit dem plötzlichen Tod seines Vaters konfrontiert. Während er sich in amouröse Fantastereien flüchtet, glaubt seine Mutter an die Wiedergeburt des Ehemanns. Die meditative Studie über Trauer und seelische Leere bricht durch Witz und feine Ironie die Unbehaustheit ihrer Figuren. Dabei öffnet die extreme Stilisierung des Films durch statische Einstellungen und eine luzide Farbdramaturgie weite Interpretationsräume. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
NI NEI PIEN CHI TIEN
Produktionsland
Taiwan/Frankreich
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Arena Films/Homegreen Films
Regie
Tsai Ming-liang
Buch
Tsai Ming-liang · Yang Oi-Ling
Kamera
Benoît Delhomme
Schnitt
Chen Sheng-chang
Darsteller
Lee Jang-Sheng (Hsiao Kang) · Chen Shiang-chyi (Shiang-Chyi) · Lu Yi-ching (Hsiao Kangs Mutter) · Tien Miao (Hsiao Kangs Vater) · Cecilia Yip (Frau in Paris)
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
Nicht jedem mag der Begriff Schuss-Gegenschuss-Verfahrens geläufig sein, doch die gebräuchlichste Form, in der vor allem Dialoge szenisch aufgelöst werden, ist allen vertraut, die ins Kino gehen. Wenn zwei Menschen auf der Leinwand miteinander sprechen, folgt zumeist auf eine Naheinstellung des einen Gesprächsteilnehmers das Gegenstück, das den Dialogpartner zeigt – und wieder umgekehrt. An diesem Schnittmuster hat sich seit den frühen, erzählenden Stummfilmen im Prinzip nichts geändert; und mit etwas Ironie ließe sich der Anfang von „What Time Is It There?“ als Tsai Ming-liangs höchst eigenwillige Variation von Schuss und Gegenschuss auffassen: Auch hier folgen sehr lakonisch Rede und Gegenrede in zwei einander ergänzenden Einstellungen. Gerade der abwegige Gedanke an das am nachhaltigsten zur Konvention geronnene Element der internationalen Filmsprache führt freilich vor Augen, wie souverän sich der taiwanesische Filmemacher von allen gängigen Regeln filmischen Erzählens entfernt hat. Nach der tonlosen, schwarz unterlegten Titelsequenz erscheint ein älterer Mann auf der Leinwand. Er holt aus der Küche einen Teller, setzt sich an einen kleinen Tisch in einem Vorraum und ruft jemanden, ohne eine Antwort zu erhalten. Dann steht er auf und geht auf den Balkon, wo er einen Blumentopf zur Seite schiebt und zu rauchen beginnt. All das dauert dreieinhalb Minuten und ist in einer einzigen Einstellung gedreht. Die Kamera hat sich keinen Millimeter bewegt, und das einzige Wort, das fiel, ist der Name Hsiao Kang, den der Alte gerufen hat. Wenn Hsiao Kang sich dann an den Vater wendet, hat mit der neuen Einstellung nicht nur eine neue Szene begonnen, sondern der alte Mann ist derweil – gleichsam zwischen Schuss und Gegenschuss – gestorben, und der Sohn spricht zur Urne, die er auf der Fahrt zur Bestattung auf dem Schoß hält. Auch der Rest des Films ist von solch spröder Erzählweise geprägt. Anders als noch in Tsais Film „Der Fluss“ (fd 35 322) rührt sich die Kamera nicht einmal zu verhaltenen Schwenks, und sobald eine Szene nicht in einer einzigen, sondern in zwei oder drei Einstellungen aufgelöst ist, verleiht das dem Gezeigten sogleich erhöhte Aufmerksamkeit. Für die Anwendung der Schuss-Gegenschuss-Technik oder ähnlicher Konventionen böte Tsais filmischer Mikrokosmos allerdings auch denkbar wenig Gelegenheit. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind zumeist sichtlich gestört, man spricht kaum miteinander. Da ist es bezeichnend, dass die intensivste Kommunikation, zumeist nonverbal, über die Distanz von Kontinenten und Zeitzonen und – es bleibt durchaus ein Deutungsspielraum – möglicherweise zwischen Dies- und Jenseits stattfindet. Hsiao Kang bietet am Straßenstand Armbanduhren feil und wird von einer jungen Frau bedrängt, er möge ihr doch seine eigene Armbanduhr verkaufen. Diese Uhr zeigt nämlich zwei Zeitzonen an und eignet sich damit besonders für Shiang-Chyis anstehende Reise nach Paris. Kaum dass er sich darauf eingelassen hat, entwickelt Hsiao Kang eine obsessive Faszination für die französische Kapitale, in deren Verlauf er Rotwein und Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (fd 8514) entdeckt. Vor allem aber beginnt er beharrlich, alle Uhren in Reichweite auf die mitteleuropäische Zeit umzustellen. Den entsprechenden Zeigerstand der Wohnzimmeruhr deutet seine Mutter wiederum als Zeichen, dass der verstorbene Ehemann in seiner Reinkarnation einen anderen Tagesrhythmus befolge. Also macht sie sich ebenso obsessiv daran, den Tagesablauf der nur noch zweiköpfigen Familie abzuändern. Die Hauptmahlzeit wird fortan mitten in der Nacht aufgetischt, und am Tage herrscht Verdunkelung. Das ist natürlich absurd; doch wahrscheinlich ist es nicht zuletzt der gelegentliche Zug zur harmlos anmutenden Absurdität, der die strenge Ästhetik davor bewahrt, prätentiös oder verquast zu wirken. So gelingt Tsai das Kunststück, seinen Filmen eine vergleichsweise lockere Zugänglichkeit zu erhalten. Auch in „What Time Is It There?“ ist Taipei ein unwirtlicher Ort, von dem Benoît Delhommes Kamera kaum mehr als einige unansehnliche Betonschleifen der Stadtautobahn und eine gesichtslose, viel frequentierte Fußgängerbrücke zeigt, an deren Rand Hsiao Kang seinen Verkaufsstand platziert. Noch auffälliger ist, wie konsequent Paris auf eine Ansammlung deprimierender Innenräume zusammenschrumpft: Wenn Shiang-Chyi ihr gesichtsloses Hotelzimmer verlässt, scheint sie kaum der anonymen Tristesse des unterirdischen Metro-Netzes zu entkommen, und selbst den Pariser Cafés und Restaurants fehlt jeglicher Charme. Die augenfällige Entfremdung der Figuren lässt sich letztlich auf unerfülltes Begehren beziehen, wenn alle drei Hauptfiguren in parallel montierten Szenen frustrierende sexuelle Erlebnisse haben. Zum Erfolgsgeheimnis von Tsais Kino gehört indes, dass er seine Ästhetik auch in solchen Schlüsselsequenzen nicht mit hochtrabendem Bedeutungsballast beschwert. Deshalb kann ihm noch die leichthändige Überraschung gelingen, den Film ganz zart auf einer übersinnlichen Note enden zu lassen.
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