Ten Minutes Older - The Cello

- | Deutschland/USA/Frankreich/Spanien 2002 | 105 Minuten

Regie: Bernardo Bertolucci

Episodenfilm von acht namhaften Regisseuren über das Thema Zeit, zusammengefasst zu einer Art Fortsetzung von "Ten Minutes Older - The Trumpet", mit dem er zeitgleich entstanden ist. Die Themen reichen vom Totschlag über Sozialkritik, Philosophie-Lektionen bis zu filmischen Lebensbildern, formal von klassischen Kurzspielfilmen bis teils herausragenden Experimentalfilmen. Zwischen den einzelnen Episoden beobachtet ein neunter Kurzfilm die Farb- und Formveränderungen von Wasser als eine Art Metapher für den Fluss der Zeit und der Gedanken. Die einzelnen Episoden: 1. "Histoire d'Eaux" (Die Geschichte vom Wasser); 2. "A Staircase - About Time 2" (Ein Treppenhaus - Über Zeit 2); 3. "One Moment" (Ein Moment); 4. "Ten Minutes After" (Zehn Minuten später); 5. "Vers Nancy" (In Richtung Nancy); 6. "Enlightenment" (Erleuchtung); 7. "Addicted to the Stars" (Süchtig nach den Sternen); 8. "Dans le noir du temps" (In der Schwärze der Zeit) (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
TEN MINUTES OLDER - THE CELLO
Produktionsland
Deutschland/USA/Frankreich/Spanien
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Road Movies/Matador/Why Not Productions/Atmom Films
Regie
Bernardo Bertolucci · Mike Figgis · Jirí Menzel · István Szabó · Claire Denis
Buch
Bernardo Bertolucci · Mike Figgis · Jirí Menzel · István Szabó · Claire Denis
Kamera
Nicholas McClintock · Fabio Cinaghetti · Lucy Bristow · Danny Cohen · Mike Figgis
Musik
Paul Englishby · Leos Janácek · Brice Leboucq · Jocelyn Pook · Avo Pärt
Schnitt
Jacopo Quadri · Arthur Graley · Mike Figgis · Zdenek Patocka · Emmanuelle Pencalet
Darsteller
Amit Rayani Arroz (Narada) · Valeria Bruni-Tedeschi (Marcellina) · Tarun Bedi (alter Mann) · Dominic West (Junger Mann) · Alexandra Staden (Junge Frau)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Diskussion
Naturgemäß ist die zweite Kurzfilmsammlung von „Ten Minutes Older“ – nach „The Trumpet“ (fd 35 739) nun „The Cello“ – genauso aufgebaut wie die erste, hatten sich doch alle 15 Regisseure auf denselben Aufruf gemeldet. Einer kurzen Millenniumsphilosophie folgen Blicke auf die Lichtreflexe eines Flusses, die auch als Trennlinie zwischen den einzelnen Kurzfilmen fungiert. Statt improvisierten jazzigen Trompeten-Phrasierungen begleiten nun die von Paul Englishby komponierten klassischen Cello-Klänge (gespielt von Claudio Bohorquez) die Bilder. Alles ist ein wenig ernster, melancholischer. Nur die von Nicolas McClintock gefilmten Wasserszenen sind noch besser geworden: Jedes Mal dominieren eine andere Farbe und eine andere Struktur des Wassers. Es beginnt mit klarem Blau und Rillen, wird später grün mit eher flächigem Muster, grau-silber mit sanften Wellen, wieder blau mit weißen Lichtflecken, sogar blau-rosa und schließlich nur noch weiß, wenn Wasser und Licht eins und unendlich werden. So stellt sich die Frage: Sind es nicht die anderen Kurzfilme, die diesen Wasserfilm trennen? Bernardo Bertoluccis „Histoires d’eaux“: Schulmeisterhaft. Ein junger indischer Einwanderer, der Arbeit sucht, landet in Italien, hilft einer jungen Frau bei einer Autopanne und darf in ihre Gastwirtschaft. Traumbilder des Inders – nun reich mit Frau und Kind – überlagern die triste Realität, sodass man nicht weiß, ob es wirklich ein Traum ist, denn am Ende begegnet der Inder demselben Flöte spielenden Bettler wie am Anfang. Aber nun beachtet er ihn und küsst ihm die Füße. Dem Film liegt eine indische Parabel zugrunde, und analog dazu hat Bertolucci ihn auch inszeniert. Beeindruckend sind die ausdrucksstarken Schwarz-weiß-Bilder mit 1950er-Jahre-Touch. Mike Figgis „A Staircase – About Time 2“: Experimentell. Wie bei Figgis’ Spielfilm „Timecode“ ist die Leinwand in vier Teile gesplittet. Sie zeigt Szenen aus vier miteinander verbundenen Räumen, ausgehend von dem Porträt einer alten Frau im Fernseher, einem Mann am Computer, einem anderen Mann in einem eher dunklen Raum und einer Frau, die durch eine Halle rennt. Nach und nach treffen die drei Personen aufeinander und gehen wieder getrennte Wege. Ein Experimentalfilm mit einem schönen Schlussbild: die alte Frau in zwei Bildern nebeneinander, das Gesicht des Mannes im dritten und das der Frau in einem gerahmten Foto im vierten. Jirí Menzels „One Moment“: Meisterhaft. Ein biederer älterer Bauer mit Hut liegt auf der Wiese und erinnert sich. Wie in viragierten Stummfilmen sieht er sich als Teenager mit der Schubkarre, Fische fangend, als muskulösen Mann, der zum ersten Mal ein Mädchen küsst, dann eine zweite und einige weitere. Er sieht sich als 30-Jährigen, 40-Jährigen, 50-Jährigen, und als Todgeweihter mit schmalem Gesicht, der er nun nicht ist. Manchmal wird er für einen Augenblick wach, womit der Film bunt und real wird. Dialoglos, mit nostalgischer Musik von Leos Janacek, Zwischentiteln (zehn Minuten – das Leben ist nur wenig länger) und Ausschnitten aus 26 alten Filmen, zeigt Menzel, wie die Zeit vergeht – und die Filmgeschichte, am Beispiel von Rudolf Hrusinsky (1920-94), dem berühmtesten tschechischen Schauspieler in seinen Filmrollen. Ein Found-Footage-Film, die größte und schönste Überraschung des Pakets. István Szábós „Ten Minutes After“: Antidramatisch. Ein Frau deckt den Tisch und wartet auf ihren Mann. Der torkelt betrunken in die Wohnung. Es kommt zum Streit, sie ersticht ihn versehentlich, die Sanitäter transportieren ihn ab, und zwei Polizisten verhaften die Frau. Andere würden daraus einen langen Film machen, Szábó packt alles in einen Kurzfilm, der nur in der Wohnung, dem Treppenhaus und auf der Straße vor dem Haus spielt, gedreht in fast nur einer Einstellung von Tilman Büttner, mal ruhig, mal hektisch, aber auch spröde und emotionslos, was nicht zu der schönen Idee – zehn Minuten, die das ganze Leben verändern – passt. Claire Denis’ „Vers Nancy“: Pedantisch. In einem Zug sitzt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy und doziert mit einer Studentin über Immigranten und Ausländerfeindlichkeit in Frankreich, wobei er zu dem Schluss kommt, dass ein Immigrant ein Eindringling ist und immer eine Bedrohung. Derweil steht auf dem Gang ein farbiger Mitreisender. Als er sich am Ende zu den beiden ins Abteil setzt, antwortet ihm Nancy sehr freundlich. Das soll wohl provokant gemeint sein, aber bis zum Ende der zehn Minuten sind die Gedanken des Zuschauers längst abgeschweift ob dieses strengen, ernsten, schwarz-weißen Redefilms, nur mit Köpfen und der Landschaft, die am Fenster vorbeizieht. Volker Schlöndorffs „Enlightenment“: Pseudo-philosophisch. Aus der Perspektive einer Stechmücke, die über den See und den von Deutschen bevölkerten Campingplatz fliegt, erzählt Schlöndorff die klassische Story vom schwarzen Freund der Tochter, den die Eltern ablehnen. Mal auf Augenhöhe mit den Figuren, mal aus luftiger Höhe betrachtet, relativieren sich alle Probleme – bis die Mücke ins Licht fliegt und verglüht. Optisch interessant, stören die aufgesetzten philosophischen Definitionen aus dem Off (Gegenwart der Vergangenheit, Gegenwart der Gegenwart, Gegenwart der Zukunft in mehreren Variationen), die zeigen, dass der Regisseur seinen Bildern (Kameramann ist wiederum Büttner) nicht traut. Michael Radfords „Addicted to the Stars“: Belanglos. Ein Mann, der im Weltall war, kommt im Jahr 2146 zurück, nur um zehn Minuten gealtert, während alle anderen 40 Jahren älter geworden sind. Etwa sein Vater, den er besucht und noch einmal umarmen kann, bevor dieser stirbt. Bemüht futuristisch in Farbe und Form angelegt, aber kalt und unoriginell inszeniert. Nur der alte kranke Vater strahlt eine ungewohnte Wärme auf. Im Nachspann ist zu lesen, dass der Film Charles Simon gewidmet ist, der 2002 mit 93 Jahren starb. Jean-Luc Godards „Dans le noir du tremps“: Godardmäßig. Typischer später Godard-Film mit Ausschnitten aus eigenen früheren Filmen und denen von Pasolini („Das 1. Evangelium – Matthäus“, fd 13 400) und Eisenstein („Iwan der Schreckliche“), Dokumentarszenen über den Holocaust, Zwischentiteln, die alle mit den Worten „Die letzten Momente“ (der Jugend, des Mutes, der Erinnerung, des Kinos, der Geschichte, der Ewigkeit) beginnen, Zitate von Virginia Woolf und Wittgenstein sowie Arvo Pärts minimalistischer „Spiegel im Spiegel“ als durchgängige Musik, die stärker wirkt als alles andere.
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