Drama | USA 2003 | 81 Minuten

Regie: Gus Van Sant

Scheinbar grundlos richten zwei Schüler an einer amerikanischen High School unter ihren Mitschülern ein Blutbad an. Das konsequent aus der Opferperspektive gefilmte Drama stellt die fiktiven Ereignisse nahezu in Echtzeit dar und verweigert sich allen Erklärungsversuchen. Die kühl-distanzierte Haltung des mit Laien inszenierten Films verstört auch deshalb nachhaltig, weil er sich über weite Strecken die Mühe macht, die späteren Opfer des Massakers in ihrer alltäglichen Normalität darzustellen und als Menschen erlebbar zu machen. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
ELEPHANT
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Home Box Office/Meno Film/Blue Relief/Fire Line Features
Regie
Gus Van Sant
Buch
Gus Van Sant
Kamera
Harris Savides
Schnitt
Gus Van Sant
Darsteller
Alex Frost (Alex) · Eric Deulen (Eric) · John Robinson (John McFarland) · Elias McConnell (Elias) · Jordan Taylor (Jordan)
Länge
81 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Entgegen der ab 12 Jahren freigegebenen Standardausgabe, erhielten die Leihversion sowie eine zusätzlich herausgegebene Special Edition keine Jugendfreihgabe. Auf ihnen ist als Bonusmaterial der erst ab 18 Jahren freigegebene 37-minütige Kurzfilm "Elephant" von Danny Boyle zu finden, der Gus van Sant zu seinem Film inspirierte. Die Speical Edition ist mit dem Silberling 2004 ausgezeichnet.

Verleih DVD
Kinowelt (16:9, 1.66:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Hat man sich daran nicht längst gewöhnt? Schwerbewaffnete Schüler durchstreifen die Gänge ihrer Schule und schießen auf alles, was sich bewegt. So geschehen in Erfurt, so geschehen an der Columbine High School, und so auch in „Elephant“. Am Ende des Films bleiben Fragen offen: Warum laufen Eric und Alex Amok? Warum wird ausgerechnet John von den Tätern gewarnt? Warum tötet Alex schließlich Eric? Auf derlei konventionelle Fragen gibt „Elephant“ keine oder bestenfalls halbherzige Antworten. Besser noch: „Elephant“ verweigert bewusst die Aussage. Der Film will vielmehr Perspektiven auf ein Geschehen eröffnen, für das es, so Gus van Sant, vielleicht gar keine hinreichende Erklärung gibt. Jede Erklärung schließt eine Reihe alternativer und vergleichbar plausibler Erklärungsversuche aus. Darauf bezieht sich der Filmtitel, der auf eine buddhistische Parabel zurückgeht, in der einige Blinde den Kadaver eines Elefanten abtasten, um hinter dessen Wesen zu kommen. Doch je nach Perspektive ändert sich alles, der Elefant ist mal ein Baum, mal ein Seil, mal ein Speer, ohne dass sich der Gesamtzusammenhang erschließen würde. Andererseits hat das Thema Konjunktur. Allein zwischen 1997 und 1999 kam es acht Mal zu Gewaltexzessen an US-amerikanischen High Schools – und die Medien spielen stets eine prominente Rolle. Auf dem Münchner Filmfest lief 2003 „Zero Day“ von Ben Coccio, ein Low-Budget-Film, in dem die Geschichte eines High-School-Massakers komplett aus der Täterperspektive rekonstruiert wird. Die jugendlichen Täter dokumentieren ihren großen Tag der Abrechnung minutiös vor laufender DVKamera, reflektieren über vorhersehbare Erklärungsversuche der Hinterbliebenen und verspotten die Post-Psychologisierung als kompletten Humbug, weil er Selbstreflexion und Selbstinszenierung der „Täter“ völlig verkenne.

Gus van Sants „Elephant“ knüpft daran an, indem er die konventionelle Medienperspektive auf sensationelle Weise auf den Kopf stellt. Üblicherweise wird ein solches Massaker aus der Täterperspektive rekonstruiert, schließlich will die Gesellschaft Erklärungen für das skandalöse Ausrasten der Amokläufer. Michael Moore („Bowling For Columbine“, fd 35 693) und auch die Erfurt-Essayistin Ines Geipel („Für heute reichts“) haben mit Verve (aber ziemlich wirkungslos und umstritten) vorgemacht, wohin solche Spuren führen können. Normalerweise belassen es Herleitungen bei einem konventionellen Mosaik aus Milieustudie, Waffengesetzen, Computerspielen und politischen Präferenzen der Täter. Im Falle von „Elephant“ ist das anders: Van Sant, der sich in seiner langen Regiekarriere wiederholt als sensibler Chronist des Heranwachsens („Drugstore Cowboy“, fd 28 331, „My Private Idaho“, fd 29 222) und gleichzeitig als mutiger und formbewusster Experimentalfilmer („Psycho“, fd 33 484, „Gerry“) erwies, wählt die unspektakuläre, aber ungleich skandalösere Opferperspektive. „Elephant“ skizziert – fast in Echtzeit – die Stunde vor dem Amoklauf. Man lernt eine Reihe von Jugendlichen kennen, die diesen Schulvormittag nicht überleben werden. Der Film nimmt sich viel Zeit, zeigt ausführlich den Schulalltag zwischen Sportplatz, Kantine und Aufenthaltsräumen, aufgelöst in eine wunderbare, nichtlineare Choreografie schier endloser Kamerafahrten. Allein der Unterricht bleibt ausgespart.

Der Zuschauer bekommt die Chance, sich mit Mimik und Gestik der Jugendlichen, ihrem Habitus, ihren Kleider- und Körpercodes vertraut zu machen, wobei ihr ständiges In-Bewegung-Sein etwas Rührendes hat. Man erlebt Schule als einen Mikrokosmos aus Zeitverschwendung, Verwaltung von Lebenszeit, Routine, kurzen Begegnungen, Kreativität und Bulimie, Verliebtheit, Begehren und Erniedrigung. Das kennt man, teilweise aus eigener Erinnerung, teils aus Kino und Fernsehen: die Supersportler, die Alphatiere, die pickligen Brillenschlangen, die Kreativen, die nervigen Cliquen, die überforderten Lehrer, die schnippischen Sekretärinnen. Nach 20 Minuten setzt sich die Topografie der Schule im Kopf des Zuschauers zusammen, man registriert erste Überschneidungen der Kamerafahrten, die dann in alternative Richtungen weiterlaufen, behutsam Informationen zusammen tragen, kleine Erzählungen spinnen, aber keinen großen Zusammenhang stiften. Schier endlose Kamerafahrten wie in Kubricks Paranoia-Studie „The Shining“ (fd 32 850), eine atmosphärische Tonspur, die scheinbar zufällig Stimmen und Klängen einfängt – man fühlt sich an den Tonmann in Wim Wenders’ „Lisbon Story“ (fd 31 343) erinnert. Ist das Beethovens „Mondscheinsonate“? War das gerade ein Schuss? Die Schule klingt wie ein Bienenstock. Nach etwa 40 Minuten betreten zwei Jungen in Kampfanzügen das Gebäude durch einen Seiteneingang – und spätestens ab hier wird „Elephant“ unangenehm. Nicht etwa, weil sich die Gewalt grafisch explizit entlädt, sondern weil der Zuschauer diejenigen, die kurzerhand ausgelöscht werden, zuvor ein wenig kennen gelernt hat und weil er ahnt, dass diese Schüler jetzt sterben werden. Ein böser, gnadenloser Abzählreim setzt ein.

Der Film hält seine kühle, distanziert-dokumentarische Haltung nicht ganz durch; es kommen auch konventionelle Momente ins Spiel. In dubio pro „Elephant“, aber sollte man sie als ein Zitat üblicher Erklärungsmuster werten, deren Inkongruenzen augenfällig werden: In ein, zwei Szenen begleitet der Film die späteren Täter nach Hause, wo am Klavier Beethoven geübt, Computerspiele gespielt und Nazi-Dokus geguckt werden. Mit der Post wird ein per Internet bestelltes Präzisionsgewehr geliefert, ein Indiz dafür, dass der Plan schon älter ist. Es kommt sogar zu einer kurzen homosexuellen Andeutung, die aber auch als weitere Facette der umfassend vorgeführten „teenage angst“ durchgehen könnte, die vielleicht dieselbe Qualität wie das gemeinsame Erbrechen der drei Bulemikerinnen auf dem Schulklo besitzt. Die formale Kraft des Films, der 2003 in Cannes die „Goldene Palme“ gewann, in den USA aber als standpunktlos und unverantwortlich kritisiert wurde, beschädigen diese Szenen nicht. Viel einprägsamer als der finale, fast beiläufig registrierte Schrecken ist derjenige, der vom ritualisierten Schulalltag, von den öden Wohnsiedlungen und den leeren, unbewohnt wirkenden Elternhäusern ausgeht. Ganz am Anfang wird ein Junge von seinem betrunkenen Vater – gespielt von New-Hollywood-Ikone Timothy Bottoms – zur Schule gefahren. Dort angekommen, muss er sich zunächst um die Betreuung des Vaters sorgen, bevor er in den Unterricht entschwindet. Auch diese Überforderung ist Teil einer Normalität, die „Elephant“ präzise und formal bestechend registriert. Eine Antwort auf offen bleibende Fragen ist sie indes nicht. Aber allein schon für diesen Mut, den Zuschauer nicht vorschnell zu entlasten, gebührt „Elephant“ größter Respekt.

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