Drama | Türkei 2002 | 110 Minuten

Regie: Nuri Bilge Ceylan

Ein Mann, der vom Land nach Istanbul übergesiedelt ist, findet Unterschlupf bei seinem Cousin, einem desillusionierten Intellektuellen. Mit visueller Raffinesse und in ruhigen Einstellungen, die Raum für Details und Geschichten am Rande lassen, folgt der Film seinen einsamen Helden durch Istanbul und bei einer Fotoreportage durch Anatolien. Konzipiert als letzter Teil einer Trilogie über die Unterschiede zwischen Land- und Großstadtleben sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Türkei, verdichtet er sich zu einer stillen Kontemplation über Leben, Liebe und Arbeit in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UZAK
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
NBC Film
Regie
Nuri Bilge Ceylan
Buch
Nuri Bilge Ceylan
Kamera
Nuri Bilge Ceylan
Schnitt
Ayhan Ergürsel
Darsteller
Muzaffer Özdemir (Mahmut) · Emin Toprak (Yusuf) · Zuhal Gencer Erkaya (Nazan) · Nazan Kirilmis (Sevgili) · Feridun Koç (Hausmeister)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Es beginnt mit einer zugeschneiten Landschaft irgendwo auf dem Lande. In der Ferne sieht man eine Männergestalt, die sich den Weg durch ein verlassenes Feld bannt. Am Horizont ragt majestätisch der Turm eines Minaretts empor. Dann steigt der Mann in einen Wagen, um wenig später in einer Stadt auf die Suche nach Arbeit und einem besseren Leben zu gehen. Yusuf quartiert sich bei seinem Cousin Mahmut ein. Der hat den Weg aus der Provinz in die Großstadt schon hinter sich, (er-)fand sich selbst als Fotograf, auch wenn die Kluft zwischen seinen Idealen und dem wirklichen Leben immer größer geworden ist. Mittlerweile verdient er sein Geld mit dem Ablichten von Fayencen für Werbekataloge. „Uzak“ ist der letzte Teil einer Trilogie, die die Unterschiede zwischen Stadt und Land thematisiert und um zwischenmenschliche Beziehungen kreist. Nach „Die Stadt“ (1997) und „Bedrängnis im Mai“ (fd 36 350), mit denen der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan auf Filmfestivals Erfolge feierte, porträtiert er im dritten Teil mit zum Teil reichlich trockenem Humor die Zwangswohngemeinschaft zweier Männer. Wenn „Uzak“ ein Film von Billy Wilder wäre, würden sich die beiden in der kleinen Wohnung schnell einen Kleinkrieg liefern; da sie aber unter dem notorisch verhangenen Himmel von Istanbul aufeinander treffen, gibt es einen Walter Matthau, aber keinen Jack Lemmon. Mahmut würde sich wahrscheinlich als Intellektuellen bezeichnen. Sein Arbeitszimmer schmücken Regale mit unzähligen Büchern, sein Lieblingsregisseur ist Andrej Tarkowskij. Als ihn ein Freund zu einer philosophischen Runde einlädt, macht er seine Teilnahme davon abhängig, ob auch Frauen dabei sein werden. Da ahnt man, dass er seine hohen Ansprüche an die eigene Selbstverwirklichung längst heruntergeschraubt hat. „Uzak“ heißt „weit, fern, entfernt“, und vom Mainstreamkino ist der Film auch dementsprechend weit entfernt. Trotz zahlreicher Anspielungen auf Tarkowskij ist er aber das Gegenteil von visionärem Mystizismus; die Filmemacher, denen Ceylan durch seinen Gebrauch von Repetition und Understatement näher ist, sind Zeitgenossen wie Kiarostami oder Angelopoulos. Selten wurde die Türkei, zumindest aus westlicher Sicht, so realistisch gezeigt, mit solch großer Distanz zu religiösen und sozialen Traditionen; und Istanbul als ein Ort des Übergangs, nicht nur von einem Kontinent zum anderen, sondern auch von einem Lebensabschnitt zu einem anderen. Dabei haben die scheinbar so unterschiedlichen Cousins vieles gemeinsam: Beide durchleben eine existenzielle Krise, haben kranke Mütter und folgen heimlich Frauen in den Straßen; beide sind einsam und entwickeln zunehmend eine Antipathie für den anderen. Als der naive Yusuf sein Glück am Hafen versucht, sieht er das Wrack eines Frachters aus dem Hafenbecken ragen, wie ein Relikt aus einer untergegangenen Zivilisation. Er wird dort keine Arbeit finden, das wird klar, als sein Blick an dem Wrack entlang wandert, resigniert und ratlos. Irgendwann erbarmt sich Mahmut seines unbedarften Mitbewohners und engagiert ihn als Assistent für eine Fotoreportage über Anatolien. Doch statt sich in der Weite des Landes näher zu kommen, vertiefen sich die Gräben zwischen dem Hinterwäldler und dem verbitterten Einsiedler, denn Yusuf steht Mahmut bei der Arbeit mehr im Weg, als dass er ihm hilft. So, wie sich Mahmut von seinen früheren Zielen entfernt hat, so hat sich sein Cousin, der durch Istanbul mit den Augen eines verblüfften Kindes streift, von seiner ländlichen Heimat entfernt. Beide haben ihre Orientierung verloren, weil sie auf das Entfernte nicht zugehen, sondern stehen bleiben, als würden sie die Zeit anhalten wollen. Ceylan schwelgt in langen, statischen Einstellungen, die durch harte Schnitte voneinander abgegrenzt werden. Vielstimmig orchestriert und angefüllt mit visueller Raffinesse, ähnelt „Uzak“ einer stillen Kontemplation über Leben, Arbeit und Liebe in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession. Die Kamera beobachtet mehr als dass sie partizipiert, lässt sich auf die kreisende Bewegung der traurigen Helden ein, vorbei an abweisenden Hafenanlagen, verrotteten Schiffen, an den wunderschön kadrierten Panoramablicken der Stadt. Musikalische Untermalung fehlt fast gänzlich, und es gibt lange Passagen ohne Dialoge. Dafür dominiert eine äußerst sensible Tonspur: Man hört Tropfen fallen, feines Klingeln im Wind, knirschenden Schnee. Die Dramaturgie konzentriert sich auf kleine Geschichten, etwa eine Maus, die sich in der Küche des Apartments einnistet und zum Anlass für bissige Bemerkungen wird; oder auf die pedantische Art, wie Mahmut die Schuhe seines Cousins beiseite räumt. Komische Aspekte hat ihr Verhältnis durchaus. Wenn Yusuf und Mahmut abends wortlos die nicht enden wollende Passage in die verbotene Zone aus „Stalker“ (fd 22 921) anschauen, in der so gut wie nichts passiert, dann fühlt man sich an den lakonischen Humor von Jim Jarmusch oder Aki Kaurismäki erinnert. Am Ende verschwinden alle Menschen aus Mahmuts Leben. Seine Ex-Frau, die er noch immer liebt, wandert mit ihrem neuen Lebensgefährten nach Kanada aus, Yusuf geht, ohne sich zu verabschieden. Das Schlussbild zeigt Mahmut, wie er im Hafen den wegfahrenden Schiffen zuschaut, so, als möchte er sich selbst am liebsten aus seinem festgefahrenen Leben stehlen. Irgendwann wendet sich die Kamera von ihm ab. Was übrig bleibt, ist ein sehnsuchtsvoller Blick in die Ferne.
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