Die besten Jahre (2003)

Drama | Italien 2003 | 366 (Zwei Teile à 183) Minuten

Regie: Marco Tullio Giordana

Die Mitte der 1960er-Jahre beginnende Geschichte zweier grundverschiedener Brüder, die sich nach gemeinsamen Anfängen nicht nur politisch auseinander entwickeln. Während der eine Psychiater wird, für Reformbewegungen in Italien eintritt und der Linken nahe steht, sucht der andere sein Heil im Polizeidienst und gerät zunehmend ins soziale Abseits. Der (gesellschafts-)politische Bilderbogen umspannt einen Zeitraum von 50 Jahren und spiegelt die italienische Historie in der Familiengeschichte seiner Protagonisten. Ein eindrucksvoller, mutiger filmischer Entwurf, der auch kleinen Episoden ihren Raum lässt und die Wünsche, Hoffnungen und Ängste eines halben Jahrhunderts spiegelt. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LA MEGLIO GIOVENTÙ
Produktionsland
Italien
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Rai Fiction
Regie
Marco Tullio Giordana
Buch
Sandro Petraglia · Stefano Rulli
Kamera
Roberto Forza
Schnitt
Roberto Missiroli
Darsteller
Luigi Lo Cascio (Nicola Carati) · Alessio Boni (Matteo Carati) · Adriana Asti (Adriana Carati) · Sonia Bergamasco (Giulia Monfalco) · Fabrizio Gifuni (Carlo Tommasi)
Länge
366 (Zwei Teile à 183) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama

Diskussion
Italien, Mitte der 1960er-Jahre: Die Brüder Matteo und Nicola Carati, fast gleichaltrig, führen ein lockeres Studentendasein; ihre Lebensentwürfe sind skizzenhaft und unentschieden. Erst die zufällige Begegnung mit Giorgia, einer Psychiatrie-Patientin, die mit Elektroschocks behandelt wurde, rüttelt die unterschiedlichen Brüder auf. Matteo entführt das Mädchen aus der Anstalt. Gemeinsam versuchen sie, ihr ein besseres Leben zu sichern, was allerdings nicht gelingt. Erst Jahre später werden die Brüder Giorgia wiedersehen: völlig verwahrlost, bei einer Razzia in einer psychi­a­trischen Verwahranstalt. Nicola begibt sich auf eine Tramp-Tour, die ihn bis zum Nordkap führen wird und in deren Verlauf er Hippies und amerikanischen Deserteuren begegnet. Später entscheidet er sich für eine Arbeit als Psychiater. Der belesene und grüblerische Matteo flieht, vielleicht vor der Erfahrung selbstbestimmten Handelns, in die sichere Welt von Befehl und Gehorsam - er wird Polizist. Immer wieder werden sich die Brüder in den folgenden Jahren begegnen: Bei der Flutkatastrophe von Florenz 1966 und auf unterschiedlichen Seiten während der Turiner Straßenschlachten von 1968 und 1974. Der optimistische Charmeur Nicola wird zum Studentenführer, lebt mit einer Polit-Aktivistin zusammen und schließt sich der Anti-Psychia­trie-Bewegung von Franco Basaglia an. Auch andere Freunde der Brüder begeben sich auf den Marsch durch die Institutionen, werden Banker oder kämpfen als Staatsanwältinnen gegen die Mafia. Zwischendrin erscheinen immer wieder anekdotisch die Ereignisse, die dem Zuschauer die Orientierung im Fluss der Zeit erleichtern: Die Niederlage der italienische Nationalmannschaft gegen Nordkorea bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 und die Ermordung Aldo Moros durch die „Brigate rosse“, der Sieg gegen Deutschland bei der WM 1982, die Ermordung des Richters Falcone in der Nähe von Palermo. Mitten im trägen Fluss der Zeitgeschichte bewegt sich die individuelle Geschichte, die Familiengeschichte, die Generationengeschichte mit ihren großen und kleinen Tragödien, den Fehlentscheidungen und Glückshoffnungen. Regisseur Marco Tullio Giordana gelingen dabei immer wieder anekdotische Verdichtungen der Konflikte, die sich aus der Dialektik von Emanzipation und Dogmatisierung ergeben, etwa als Matteo nach einer Straßenschlacht, in deren Verlauf ein Freund zum Krüppel geschlagen wird, seinen Bruder besucht und dort auf Giulia trifft, die mit ihm nicht reden mag, weil er „auf der falschen Seite“ steht. Zumeist hält „Die besten Jahre“ eine unterhaltsame Schwebe zwischen amüsanter und amüsierter Genremalerei und politischem Kommentar. Giulia, eine hochbegabte Pianistin, gibt das Klavierspiel auf, weil sie nicht „halbgut“ sein will, und wird von revolutionärer Ungeduld in den bewaffneten Kampf zu den Roten Brigaden getrieben. Deren erste Flugblätter tauchen in dem Film in dem Augenblick auf, als Nicola ein entscheidendes Gerichtsverfahren für seine Psychiatrie-Patienten gewinnt. In einer ausgesprochen polemischen Szene überrascht Nicola seine Lebensgefährtin und ihre Genossen bei einer Sitzung und brüskiert sie, indem er sie als Lügner und Heuchler abqualifiziert. Später wird Nicola alles tun, um Giulia lebend aus der Heimlichkeit zurück zu holen. Während also auf Seiten der Linken Mitte der 1970er-Jahre die Weichen der jeweiligen Zukunft gestellt werden, entwickelt Matteo sich zu einem mehr als schwierigen Charakter. Er lebt ohne soziale Bindungen, ist aufbrausend und gewalttätig, verschlossen und vielleicht latent homosexuell. Der Film lässt den Figuren ihre Geheimnisse, löst nicht alle Konflikte in Dialoge auf, obwohl sehr viel diskutiert wird. Matteo wird sich später aus dem Fenster stürzen, nicht ohne zuvor ein Kind gezeugt zu haben. Schließlich endet die Reise im Frühjahr 2003 in Norwegen, wo Matteos Sohn, der Nicola gerne „Vater“ nennen würde, all die Orte aufsucht, von denen sein Onkel ihm erzählte, und dabei zu dem Schluss kommt, dass alles, was ist, schön ist. Marco Tullio Giordana („100 Schritte“, fd 36 116) hat sich für sein Geschichtspanorama viel Zeit genommen: Sechs Stunden dauert „Die besten Jahre“, die allerdings wie im Flug vergehen. Dabei lässt der Film – bei aller anekdotischen Verdichtung, bei aller dramaturgischen Zuspitzung – auch den kleinen Geschichten ihren Raum, setzt auf unterschiedliche Landschaften und Dialekte und nimmt die Akteure bei ihren Bemühungen um eine bessere Welt ernst, selbst dort, wo die utopischen Entwürfe gescheitert sind. Insofern ist „Die besten Jahre“ eine prosaische Fortschreibung der opernhaf­ten Gesellschaftsporträts von Visconti, Scola („Die Familie“, fd 26 339) oder Bertolucci („1900“, fd 20 027/20 104). Giordanas Blick ist nüchtern, aber er denunziert die 68-er nicht; er will den Blick auf die italienische Gesellschaft „am Ende einer ganzen Kultur“ riskieren. Interessant ist ein direkter Vergleich mit Edgar Reitz’ „Heimat 3“ (fd 36 711) im Hinblick auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der politischen Kulturen Italiens und Deutschlands, gerade weil beide Filme sich an vergleichbaren Motiven abarbeiten. Auch bei Giordana dienen immer wieder Familienfeste als dramaturgische Knotenpunkte; auch hier geht es darum, sich ein Haus als Fixpunkt zu bauen. Im Gegensatz zu Reitz, wo sich der Kunstwille seiner Protagonisten in sehr deutschen Künstler-Klischees erschöpfte, setzt sein italienisches Pendant auf die unterschiedlichsten Kunstdiskurse, angefangen von Matteos Leidenschaft für die Literatur über die Rolle der Fotografie als Kunst und als Mittel beim politischen Kampf bis hin zur Begeisterung für Bibliotheken, Musik, Architektur und Handwerk. Entscheidend für die außergewöhnliche Qualität von „Die besten Jahre“ dürfte aber der italienische Familiensinn sein, der letztlich als Herz des Films fungiert. Selbst die erbittersten ideologischen Zerwürfnisse werden in der Familie und durch die Familie vergessen bzw. verdeckt. Es ist Giorgia, die Nicola darauf aufmerksam macht, dass ein Foto seines toten Bruders ein Geheimnis birgt. Erst dadurch wird Matteos Vermächtnis „entdeckt“, und die trauernde Mutter bekommt plötzlich einen unerwarteten Enkel. Ebenso sucht Sara, die Tochter von Nicola und Giulia, die Nähe zur Mutter, als diese aus dem Gefängnis entlassen wird. Diese mythologische Qualität des Films kommt in einer fantastischen, wortlos-zärt­lichen Szene auf den Punkt, als sich Mirella, Matteos unerfüllte Liebe, und Nicola unausgesprochen ineinander verlieben und bei einem morgendlichen Spaziergang Matteo „begegnen“. Hier wird der Film buchstäblich zur Gespenstergeschichte, der die Energien, die Wünsche, Hoffnungen und Ängste eines knappen halben Jahrhunderts in ein mutiges Bild überführt.
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