Ich hiess Sabina Spielrein

Dokumentarfilm | Schweden/Dänemark/Finnland/Schweiz 2002 | 93 Minuten

Regie: Elisabeth Márton

Essayistischer Dokumentarfilm über Sabina Spielrein, eine frühe Pionierin der Psychoanalyse. Die auf der Grundlage von Tagebuchaufzeichnungen und einer umfangreichen Korrespondenz mit C.G. Jung und Sigmund Freud chronologisch strukturierte Biografie verbindet eine stupende Fülle zeitgeschichtlicher Materialien zu einer komplexen Annäherung. Trotz der hochartifiziellen Machart ermöglicht die kunstsinnige Spurensuche eine emotionale Begegnung mit einer überraschend modernen Frau. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Schweden/Dänemark/Finnland/Schweiz
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Idè Film Felixson AB/Maximage/Haslund Films AS/Millenium Film OY/Les Films du Centaure
Regie
Elisabeth Márton
Buch
Elisabeth Márton · Signe Maehler · Yolande Knobel · Kristina Hjertén
Kamera
Robert Nordström · Sergej Jurisdizki · Imre Becsi · Jan Eriksson-Tillberg · Mischa Gavrjusjov
Musik
Wladimir Dikanski
Schnitt
Björn Engström · Yolande Knobel
Darsteller
Eva Österberg (Sabina Spielrein) · Lasse Almebäck (Carl Gustav Jung) · Marcedez Csampai · Palle Granditsky · Natalia Usmanowa
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Eigentlich müsste Sabina Spielrein (1885-1942) genauso bekannt sein wie Sigmund Freud oder C.G. Jung; war sie doch die erste Frau, die 1911 in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen wurde, sich mit dem Seelenleben von Kindern beschäftigte, der neuen Wissenschaft in Russland den Weg ebnete und als Lehranalytiker (u.a. für Jean Piaget) tätig war. Doch bis Ende der 1970er-Jahre zeugten lediglich vier marginale Fußnoten in Freuds Werk von ihrer Existenz; die Schriften der Russin jüdischen Glaubens – unter anderem zahlreiche Aufsätze im renommierten „Jahrbuch der Psychoanalyse“ – waren vergessen, sie selbst (und ihre beiden Töchter) von der deutschen Wehrmacht ermordet. Dann aber wurde in Genf ein Koffer mit ihren Tagebüchern aus den Jahren 1909-1912 sowie eine umfangreiche Korrespondenz mit Jung und Freud gefunden, die ein neues Licht auf die Anfänge der Psychoanalyse warfen und das spannungsvolle Verhältnis der beiden Gründerfiguren um eine überraschende Größe erweiterte: Sabina Spielrein. Die Tochter aus großbürgerlichen Verhältnissen war 1904 in die Züricher Nervenklinik Burghölzli eingeliefert und von Jung behandelt worden; die neuartige „Rede-Kur“ nach Sigmund Freud zeigte bei der hochbegabten Frau bald Wirkung, sodass sie zehn Monate später ein Medizinstudium aufnehmen konnte. Überdies arbeitete sie fortan als Assistentin in Burghölzli, woraus 1911 ihre Promotion über einen Fall von Schizophrenie erwuchs. Aus dem intensiven Kontakt mit Jung datiert allerdings auch eine lebenslang unglückliche Liebesbeziehung, die unter dem Stichwort der „Gegenübertragung“ sogar in die psychoanalytische Theorie Eingang fand.

Auch der Dokumentarfilm der in Schweden lebenden Filmemacherin Elizabeth Márton handelt von dieser Mesalliance. Im Unterschied zu mancher freischwebenden Deutung lässt sie Spielrein allerdings selbst zu Wort kommen, indem sie ihre Briefe und Notizen durch Voice over zum Sprechen bringt. Die chronologisch strukturierte Filmbiografie ähnelt dadurch einem authentischen Briefroman, der auf der Bildebene durch eine stupende Fülle an historischen Fotos, Wochenschau-Aufnahmen und anderen Dokumenten unterlegt ist. Die kunstsinnige, hochartifizielle Montage weiß mit dem disparaten Material viel anzufangen, das mitunter zu höchst bewegtem Leben erwacht, wozu auch die geschickt eingeschnitte Spielszenen mit den Schauspielern Eva Österberg und Lasse Almebäck zählen. Durch Überblendungen, extreme Perspektiven, dem Spiel mit Licht und Schatten und flüchtigen, farbentsättigten Momentaufnahmen fügen sich diese nachinszenierten Begebenheiten in den traumnahen Duktus einer zeitversetzten Annäherung, die eine starke, kämpferische Persönlichkeit nahe bringt. Trotz der nicht kaschierten Fiktionalisierung durch Eva Österbergs geheimnisvoll-schmales Gesicht, das sich mit aufmerksam- fragendem und zugleich doch stillem Blick dem Gedächtnis einprägt, wahrt die intensive filmische Spurensuche eine wohltuende dokumentarische Distanz: Obwohl intimste Gedanken preisgegeben werden, bleiben die Protagonisten auf eine bezeichnende Art fremd; nie hat man das Gefühl, sie als „Figuren“ zu durchschauen oder ihre Empfindungen zu „verstehen“; ganz im Gegenteil begegnet man Jung und Spielrein ähnlich wie realen Personen mit Achtung und Respekt, auf Augenhöhe. Dazu trägt freilich weniger die angeblich der Psychoanalyse abgeschaute Form des Films bei, die linear und assoziativ zugleich sein soll, als vielmehr die Klarheit der Zitate und ihre dem jeweiligen Dialekt angenäherte Intonation; die raffinierte, vielfach kodierte Bildebene erschließt sich in ihre Komplexität erst dem zweiten, mit dem Gegenstand bereits vertrauten Blick.

Trotz seines scharfsinnig-essayistischen Diskurscharakters ist das streng komponierte Porträt aber so gestaltet, dass es auch eine emotionale Begegnung mit der ungewöhnlichen Frau ermöglicht und Sabina Spielrein damit eine Art späte Gerechtigkeit widerfahren lässt, in deren Schicksal sich die Größe, aber auch die Verdammnis des 20. Jahrhunderts schmerzhaft widerspiegeln. Was 1904 als „psychotische Hysterie“ diagnostiziert und mit dem noch ungelenken Begriffsapparat der Psychoanalyse seziert wurde, würde man heute als pubertäre Krise empfinden, durch die eine so vielseitig talentierte Heranwachsende wohl hindurch muss. Ihr Leben in Widersprüchen, die ständigen Kompromisse zwischen Karriere und Kindern, Bindung und Empfindung, Gefühl und Logik ist zur alltäglichen Gestalt modernen Lebens geworden; der Aufbruch aus Standes- und religiösen Grenzen nicht weniger. Um so bedrückender empfindet man deshalb wohl den Sturz in die Barbarei des linken wie rechten Totalitarismus, der dem eben flügge gewordenen Jahrhundert die Flügel stutzte und eine bislang ungekannte Individualisierung im Keim erstickte. Die Titelzeile „Ich hiess Sabina Spielrein“ ist deshalb mehr als ein Zitat, fast ein Vermächtnis, zumal es vollständig um die Zeile „Ich war auch einmal ein Mensch“ ergänzt werden müsste. Elizabeth Mártons filmische Verneigung vor einer Pionierin der Psychoanalyse öffnet dafür eine Tür, hinter der man einer faszinierenden Persönlichkeit begegnen kann.

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