Das große Rennen von Belleville

Zeichentrick | Belgien/Frankreich/Kanada 2003 | 81 Minuten

Regie: Sylvain Chomet

Als eine alleinerziehende Großmutter entdeckt, dass ihr Enkel eine manische Begeisterung fürs Fahrradfahren hat, trainiert sie den pummeligen Jungen bis zum Modellathleten, der bei der Tour de France Chancen hat. Am großen Tag wird der junge Rennfahrer entführt und muss in der Übersee-Metropole Belleville in einem illegalen Wettbüro mit anderen um die Wette strampeln. Formal wie inhaltlich hervorragender Trickfilm, der virtuos mit Versatzstücken des Neorealismus, bildender Künstler wie Dix und Grosz sowie der minimalistischen Slapstick-Komik Jacques Tatis spielt und dabei zu einem eigenständigen, fesselnden Erzählstil findet. Die faszinierende absurde Komödie erschließt sich, einem Stummfilm gleich, trotz der französischen Sprache problemlos. - Sehenswert ab 6.
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Filmdaten

Originaltitel
LES TRIPLETTES DE BELLEVILLE | BELLEVILLE RENDEZ-VOUS
Produktionsland
Belgien/Frankreich/Kanada
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Les Armateurs/Production Champion/Vivi/France 3 Cinéma/Sylvain Chomet
Regie
Sylvain Chomet
Buch
Sylvain Chomet
Musik
Benoît Charest
Schnitt
Chantal Colibert Brunner
Länge
81 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 6.
Genre
Zeichentrick
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
EuroVideo/Concorde (16:9, 1.78:1, DD5.1 frz./dt.)
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Diskussion
Amerika hat Walt Disney, Tex Avery („Tom und Jerry“) und Chuck Jones („Bugs Bunny“), Japan Isao Takahata („Die letzten Glühwürmchen“), Mamoru Oshii („Ghost in the Shell“) und Hayao Miyazaki („Chihiros Reise ins Zauberland“) – und was hat Europa? Während die Comic-Kultur besonders in den Benelux-Ländern und Frankreich vielfältig und erfolgreich ist, tut sich die Kunst der bewegten (Zeichentrick-)Bilder schwer, sodass Sylvain Chomet wie eine Lichtgestalt erscheint. Der in Kanada lebende 40-jährige Franzose verweigert sich dem aktuellen Hype der 3D-Computeranimation und kreierte mit seiner ersten abendfüllenden Animation so etwas wie eine Ikone des europäischen Trickfilms. Europa ist dabei synonym fürs Frankreich der 1930er-Jahre mit dem Flair verruchter Cabaret-Shows, Bistro-Cafés, Chansons, Gauloises und Baguettes – einem Code, der besonders in Amerika einfach und wertfrei zu decodieren ist.

„Das große Rennen von Belleville“ nimmt seinen Anfang in einem Dorf, in dem der kleine Champion nach dem Tod seiner Eltern mehr schlecht als recht von seiner Großmutter Madame Souza aufgezogen wird. Es ist nicht leicht, in den großen runden Kinderaugen des pummeligen Jungen Interesse oder gar Begeisterung zu entfachen; so bringt ein kleiner Hund als Geschenk kaum mehr als vorübergehende Abwechslung. Erst als Madame Souza die Sammlung von Zeitungsausschnitten unter Champions Bett findet, scheint der Bann gebrochen: Der Junge will ein Fahrrad! Jahre später ist aus ihm ein schlaksiger Modellathlet geworden und aus seiner Großmutter eine perfekte Fachfrau in Sachen Rennräder und Trainingspläne. Das Ziel: die erfolgreiche Teilnahme an der Tour de France. Doch am entscheidenden Tag verschwindet Champion. Eben erst kämpfte er sich noch im hinteren Drittel des Feldes durch die Berge, und nun bleibt nur das herrenlose Fahrrad als Spur. Madame Souza und Hund Bruno führt eine Fährte zum Hafen, in dem sie gerade noch ein Schiff in Richtung Übersee aufbrechen sehen. Bald finden sie sich in der glamourösen Metropole Belleville wieder, in der einst ein berühmter französischer Varieté-Exportschlager mit singenden und musizierenden Drillingsschwestern Erfolge feierte. Zufällig macht die Großmutter die Bekanntschaft der inzwischen alten, abgetakelten Damen und wird in ihr karges Domizil aufgenommen. Noch kann sie nicht wissen, dass deren augenblickliches Engagement in einem kleinen, französisch geprägten Nachtclub zu Champion führen könnte; denn im Kellergewölbe des Clubs veranstaltet der Besitzer, ein Weinschieber und Mafiosi, Wetten auf von Menschenkraft angetriebene Radrennfigurinen.

„Das große Rennen von Belleville“ ist sowohl formal als auch inhaltlich außergewöhnlich. Die tragikomische Geschichte um ein dem Radsport verpflichtetes Leben ist keine, die dem landläufigen Verständnis von Zeichentrickunterhaltung entspricht, und der mit absurder Situationskomik durchsetzte Neorealismus dürfte bei manchem eher Befremden als spontanes Vergnügen auslösen. Dennoch versprüht der Film in etlichen Details genug Charme und anarchischen Humor, um keinen vom Genuss auszuschließen – vorausgesetzt, man ist offen genug, um sich auf neue Erlebniswelten einzulassen. Denn Sylvain Chomets visuelles und narratives Konzept ist ebenso radikal wie genial, wobei seine Absage an den Naturalismus sein zeichnerisches Konzept viel näher an expressionistische Ausläufer der bildenden Kunst heranrückt als an aktuelle 3D-Animationen aus Hollywood oder Japan: Die Figuren haben in ihrer krassen Überzeichnung viel vom gesellschaftskritischen Realismus eines Otto Dix oder George Grosz. Schon die Eingangssequenz, in der sich fette Damen aus mächtigen Limousinen quetschen und ihre schmächtigen Ehemänner wie Handtaschen hinter sich her zur festlichen Cabaret-Premiere schleifen, ist symptomatisch für eine zur Karikatur überzeichneten Welt, in der die Dekadenz zur Leitkultur avanciert. Jede neue Szenerie strotzt nur so vor Spitzen und Seitenhieben, schwelgt in bissigen (Vor-)Urteilen gegenüber Franzosen oder Amerikanern und deren Heiligtümer, ohne dabei jedoch zu diskreditieren.

Der scheinbare Minimalismus des Films setzt sich auf der Ebene der Sprache fort: Es wird nicht viel geredet und wenn, dann geschieht es in einem fragmentarischen Französisch. Dadurch hat ein dieser Sprache mächtiges Publikum gewiss Vorteile und kann kleine Sprachspitzen besser goutieren; notwendig sind solche Kenntnisse aber nicht. Gleich einem Stummfilm erschließt sich die Geschichte über die Aktion, eine Kunst, die einst Jacques Tati im Tonfilm zur Meisterschaft brachte. So verwundert auch nicht, dass Chomet immer wieder dem großen Komiker seine Reverenz erweist, sei es mit Filmplakaten an der Wand, mit Tati-Filmen, die im Fernsehen laufen, mit einem diffizil ausbalancierten Filmton oder dem atemberaubenden Sinn für Timing auf der Ebene des Slapsticks – man kann sich kaum an dem Werk satt sehen. Immer wieder sind neue Bezüge zu entdecken, eröffnen sich neue narrative und interpretatorische Horizonte, erschließen sich unentdeckte Pointen. Mit dem Finale erfährt man dann ganz nebenbei eine Rahmenhandlung, die das Gesehene in ein neues Licht taucht. So wird „Das große Rennen von Belleville“ zum atemberaubenden Perpetuum Mobile, das aus sich selbst heraus immer wieder neue Kraft schöpft.

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