Sie nennen ihn Radio

Sportfilm | USA 2003 | 109 Minuten

Regie: Michael Tollin

Unter der Obhut eines Sportlehrers in einem amerikanischen Provinzstädtchen mausert sich ein geistig leicht zurückgebliebener junger Mann zu dessen wichtigstem Helfer, obgleich dies nicht überall auf Gegenliebe stößt. Eine typisch amerikanische Sportgeschichte im Spannungsfeld zwischen Erfolg und Gemeinschaftsdenken, die den Erbauungskitsch des Genres weitgehend meidet und das authentische Thema der Integration zu einer Hommage an das kleinstädtische Amerika und seine wahren Werte nutzt. - Ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
RADIO
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Revolution/Radio/Tollin-Robbins Prod.
Regie
Michael Tollin
Buch
Mike Rich
Kamera
Don Burgess
Musik
James Horner
Schnitt
Chris Lebenzon · Harvey Rosenstock
Darsteller
Cuba Gooding jr. (Radio) · Ed Harris (Trainer Jones) · Alfre Woodard (Daniels) · S. Epatha Merkerson (Maggie) · Brent Sexton (Honeycutt)
Länge
109 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Sportfilm
Externe Links
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Heimkino

Die umfangreichen Extras beinhalten u.a. einen dt. untertitelbaren Audiokommentar des Regisseurs sowie ein Feature mit 6 im Film nicht verwendeten Szenen (6 Min.).

Verleih DVD
Columbia TriStar Home (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Jede Leinwand, auf der „nach einer wahren Geschichte“ geschrieben steht, öffnet das Fenster zu einer moralischen Erzählung. Rhetorisch ähnelt dieser Beginn so sehr dem märchenhaften „Es war einmal...“, dass man oft Mühe hat, das Folgende zu unterscheiden. Auch die „wahre Geschichte“ ist von ihrem Anspruch her universal und scheut vor Klischees und Wiederholungen nicht zurück. Bewegt sich die Erzählung zudem innerhalb der Regeln eines USamerikanischen Nationalsports, ist auch der Wunderglaube ins angestammte Recht gesetzt. Für die Dauer von zwei Stunden hält die skeptische Erfahrung den Atem an und überlässt Hollywood bereitwillig das Feld. Zu den Nebenwirkungen dieses Genres zählt es, dass die Geschichte immer unwirklicher erscheint, je genauer ihr Ort in der Realität bestimmt wird. In „Sie nennen ihn Radio“ sind es die Requisiten der 1970er-Jahre, die das Städtchen Anderson, South Carolina, in eine Insel im Strom der Zeit verwandeln. Die wechselnden „seasons“ des Schulsports haben hier die Jahreszeiten als natürliches Zeitmaß abgelöst. Nichts, so scheint es, könnte den Gang der Dinge im steten Wechsel von Baseball, American Football und Basketball verändern. „Ah, das erste ,Ich komme gleich’ der Spielzeit“, kommentiert die Ehefrau des Footballtrainers, als sie ohne ihren in Taktikbücher vertieften Mann zu Bett gehen muss.

Der Morgen hält dann für Harold Jones eine Herausforderung bereit, für die er keine Lehrmeinung einzuholen braucht: Ein geistig etwas zurück gebliebener junger Mann ist von einigen seiner Spieler zum Spaß drangsaliert, gefesselt und in einen Schuppen gesperrt worden. Während er den verängstigten Jungen befreit, ahnt Jones bereits, dass es mit ein paar Sonderschichten für die jugendlichen Übeltäter nicht getan ist. Als James Robert Kennedy tags darauf wieder das Trainingsareal umschleicht, nimmt ihn Jones unter seine Fittiche und gibt dem Zaungast mit der Vorliebe für Rundfunkempfänger den Rufnamen, den er im wirklichen Leben bis heute trägt: Radio. In der Obhut des Sportlehrers blüht Radio mehr und mehr auf, sei es als eifriger Helfer in der Knochenmühle des Trainings oder als notdürftig gebändigter Springinsfeld, der bei Meisterschaftsspielen an der Seitenlinie allzu gern den Ton angeben würde. Bereits nach kurzer Zeit hat die Gemeinde Radio als einen der ihren akzeptiert, wenngleich sich nicht jeder gleichermaßen schnell vom Gedanken der Integration überzeugen lässt. Eine kleine, aber gewichtige Opposition formiert sich in Gestalt des örtlichen Bankiers, der die eher durchwachsenen Ergebnisse in der Meisterschaft auf die „Ablenkung“ durch Radio zurückführt. Bei den wöchentlichen Treffen, die Coach Jones mit den Football-Honoratioren der Stadt abhält, schwebt deshalb eine Frage ständig im Raum: Geht es im Mannschaftssport zunächst um den Erfolg oder um den Gemeinschaftsgedanken?

Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, auf welche Seite sich die Bewohner Andersons’ am Ende schlagen werden. Im Hollywoodkino ist der Sport in der Regel eine Metapher für sozialen Zusammenhalt und das Spielfeld eine Bühne, auf der der Einzelne die Gelegenheit bekommt, im Dienst des großen Ganzen Charakter zu beweisen. Eine gewisse Nachsicht gegenüber Pathos und Sentimentalität ist bei „Sie nennen ihn Radio“ also angeraten, zumal der sportliche Rahmen zum städtischen Mikrokosmos erweitert wurde und die Erzähler einen geistig behinderten Jungen als leuchtendes Vorbild adoptieren. Wenn Radio zu Weihnachten eine ganze Wagenladung Geschenke mit nach Hause nimmt, dann trägt er sie am nächsten Morgen postwendend wieder aus. Mit Regisseur Michael Tollin, Drehbuchautor Mike Rich und Produzent Brian Robbins zeichnen drei Männer für den Film verantwortlich, die sich ihre Meriten in der zweiten Reihe Hollywoods erworben haben, vornehmlich im Genre Sportfilm. Tollin drehte zuletzt die Baseball-Komödie „Summer Catch“ (fd 35 850), Robbins die Milieustudie „Hardball“ (fd 35 405), und Rich schrieb das Drehbuch zu einer anderen wahren Sportgeschichte, „Die Entscheidung“ (fd 36 227). Den Respekt, mit dem sie in ihren Filmen die Welt des kleinen, von Amateuren betriebenen Sports behandeln, erweisen sie auch ihren Figuren. Zu keinem Zeitpunkt wirkt Radio wie ein Maskottchen im dramaturgischen Spiel, und auch wenn sich der eine oder andere Konflikt etwas zu leicht in Wohlgefallen auflöst, hat man doch nie das Gefühl, den tatsächlichen Ereignissen würde hier gewaltsam auf die Sprünge geholfen. Erbauungskitsch ist die Sache von Rich und Tollin glücklicherweise nicht, und dass „Sie nennen ihn Radio“ weitgehend an Originalschauplätzen aufgenommen wurde, ist mehr als Liebe zum historisch verbürgten Kolorit: eine Hommage an das kleinstädtische Amerika, in dessen Mitte, so die Sage, die wahren Werte des Sports gedeihen.

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