Die Spielwütigen

Dokumentarfilm | Deutschland 1996-2004 | 108 Minuten

Regie: Andres Veiel

Über sieben Jahre hinweg begleitet der Film vier junge Schauspieler auf dem schwierigen und komplexen Weg in ihren Traumberuf: von der Vorbereitung Anfang 1997 auf die Aufnahmeprüfung an der renommierten Schauspielschule "Ernst Busch" und das aufreibende Anrennen gegen die Strukturen der Elite-Institution bis zu den ersten Engagements im Jahr 2003. Präzise zeichnet er die Hintergründe, Motive und Zweifel und fragt zugleich nach dem Preis für den Erfolg. Dabei kreist er subtil und einfühlsam um die Dynamik der Gefühle und verdichtet die vielen Partikel mit ebenso eindringlichen wie charmanten Details zu dramatischen Initiationsgeschichten. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1996-2004
Produktionsfirma
Journal Film
Regie
Andres Veiel
Buch
Andres Veiel
Kamera
Hans Rombach · Lutz Reitemeier · Johann Feindt · Jörg Jeshel · Rainer Hoffmann
Musik
Jan Tilman Schade
Schnitt
Inge Schneider
Darsteller
Constanze Becker · Karina Plachetka · Stephanie Stremler · Prodromos Antoniadis
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Die vier „Spielwütigen“, das sind drei junge Frauen und ein junger Mann, für die es von Anfang an nur ein Ziel gibt: mit aller Kraft, Rigorosität und Willensstärke den Sprung an die Schauspielschule zu schaffen. Ganz am Anfang, noch vor ihrer Aufnahmeprüfung an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, gibt es keine Grenzen, die sie sich vorstellen können – und wollen. „Warum“, fragt Stephanie Stremler eher rhetorisch, „sollte ich fürs Schauspiel eine tiefere Grenze setzen als fürs Leben?“ Zu dieser Zeit, im Januar 1997, spielen Stephanie, Constanze Becker, Karina Plachetka und Prodomos Antoniadis noch innerhalb der Geborgenheit, aber auch der erdrückenden Enge ihrer Familien; Zuschauer sind die Eltern, die sich zwar beeindruckt zeigen und ihrem Kind das Beste wünschen, zugleich aber nur schwer nachvollziehen können, warum man sich da „in etwas hineinsteigert“, das so Risiko behaftet ist wie der Beruf des Schauspielers. Aber für Stephanie – wie auch für die anderen – ist ihr Leben primär nicht Kommunikation, sondern vor allem Kunst, und die will sich ausdrücken und ausgelebt werden. Vor den vier „Spielwütigen“ liegen die entscheidenentscheidenden, zumindest dauerhaft prägenden Jahre ihres Lebens: ein langer, beschwerlicher, mühsam erkämpfter Weg voller Zweifel und Rückschläge, Enttäuschungen und Ängste – zugleich aber auch die nicht minder bereichernden, erfüllten und zutiefst befriedigenden Erfahrungen ihrer eigenen Stärken und Fähigkeiten. Grenzen, ja, die spüren sie schon bald allzu deutlich, und doch auch, dass deren ständiges Ausloten, das „bis an die Grenze gehen“, der spannendste Teil ihres Weges ins Erwachsenen- und Berufsleben ist.

Sieben Jahre lang hat Andres Veiel („Black Box BRD“, fd 34 861) die vier Protagonisten begleitet, sie an bestimmten Wegmarken ihrer beruflichen Entwicklung beobachtet und – stets getrennt voneinander – befragt. Nach dem Prolog folgen die Fahrt nach Berlin, die Nerven aufreibende Aufnahmeprüfung (bei der Stephanie durchfällt, sodass sie erst ein Jahr später bei einem nochmaligen Versuch reüssiert), der Umzug als äußeres Zeichen der Abnabelung, dann vier Jahre der knochenharten Ausbildung. Jeder der vier sehr unterschiedlichen und doch in ihrer tiefen Ernsthaftigkeit unsichtbar miteinander verbundenen jungen Menschen reagiert anders auf den immensen Druck, und doch zeigen sich Parallelen: im ungläubigen Staunen, zu der kleinen „Elite“ zu gehören, die es aus 1000 Bewerbern geschafft hat; in der anfänglichen Unruhe, sich wortwörtlich fallen lassen zu müssen, um die Ausbildung anzunehmen und zu verinnerlichen; in den sich häufenden Enttäuschungen und Rückschlägen, die zu Selbstzweifel, aber auch zu Wut auf die Lehrer sowie zu Renitenz und Gegenwehr führen. Es ist ein permanenter Kampf ums Geben und Nehmen: Was nehme ich an? Was gebe ich preis und, vor allem, was gebe ich von mir auf?

Andres Veiels so genannte Langzeitdokumentation hat wohltuender Weise nichts mit der modischen Sendeform des „Reality TV“ gemein. Aus dem „natürlichen“ Zwang der Verdichtung des Materials über vier Persönlichkeiten aus sieben Jahren auf Kinofilmlänge entwickelt der Regisseur vielmehr eine sehr persönliche Aufbereitungsform, die deutlich mit der Organisation eines narrativen Spielfilms verwandt ist – in der Tat „inszeniert“ Veiel Initiationsgeschichten, er erzählt, pointiert und dramatisiert, schafft Emotionen und Spannung vor allem mit Hilfe der virtuosen Montage und geht gelegentlich sogar so weit0, die dokumentarischen Sequenzen durch deutlich nachgestellte Szenen zu rhythmisieren. So löst er beispielsweise die anstrengenden Probearbeiten in schnelle Schnitt- Gegenschnitt-Folgen auf, die einerseits den anonymen Kontrollraum, besetzt mit strengen Theaterlehrern, registrieren, andererseits den auf der Bühne „ausgelieferten“ Eleven ganz nahe rücken: ihrem Gesicht, ihren Augen oder ihren Händen, die von Erschöpfung und stiller Verzweiflung, manchmal auch von Ratlosigkeit und drohender Resignation sprechen. Dabei ist es vor allem der behutsamen und sensiblen Inszenierungskunst Veiels zu verdanken, dass man den vier „Spielwütigen“ über Details, Indizien und Spuren nahekommt, ihre jeweilige Befindlichkeit immer auch „modellhaft“ liest, nie aber akademisch und theoretisch. Ganz im Gegenteil: Kaum könnte ein Krimi spannender sein, kaum könnte ein Melodram tiefer berühren als Veiels Beobachtungen der vier jungen Menschen, denen man schon bald ebenso viel Respekt wie Zuneigung entgegenbringt.

Ganz am Ende, wenn die Schule beendet ist und die ersten Engagements angenommen werden (oder auch nicht, wie am Fall von Prodomos, der sich mit neuem, schwer erarbeitetem Selbstbewusstsein auf den Weg nach New York macht), erlaubt sich Veiel ein kurzes Flashback zurück ins Jahr 1997 und bringt Anfang und (vorläufiges) Ziel zusammen. Verblüfft und beeindruckt registriert man die äußeren Veränderungen der „Spielwütigen“, ihre neue Reife. Ob sie glücklich sind? Ja, irgendwie schon, doch die Zeit zum Innezuhalten, ja, zum Leben überhaupt, die steht wohl noch aus. Viele Träume wurden verwirklicht, manche Wunden werden bleiben. Unvergesslich etwa Stephanies ganz kurzer Blick des „Absturzes“, als sie inmitten des Glücks ihrer Hochzeit in Israel das komplette Unverständnis ihrer Eltern erkennt – das Leben als höchst spannendes Drama.

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