Drama | Deutschland 2004 | 94 Minuten

Regie: Ayse Polat

Zwei grundverschiedene junge Frauen schließen eine seltsame Freundschaft, die zwischen Anziehung und Abstoßung, Vertrauen und Vorbehalten oszilliert. Die eine lebt als kurdische Asylantin ständig mit der Gefahr, abgeschoben zu werden, die andere fühlt sich ungeliebt und leidet unter den Bedingungen in dem katholischen Erziehungsheim, in dem die Mädchen leben und mit dessen Regeln sie sich auseinander setzen müssen. Einfühlsame Geschichte um die Nöte zweier Heranwachsender, die vor allem durch die hervorragenden Leistungen der Darstellerinnen und durch skurrile Regieeinfälle überzeugt. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
X-Filme Creative Pool/ZDF/Intervista Digitalmedia
Regie
Ayse Polat
Buch
Ayse Polat
Kamera
Patrick Orth
Schnitt
Gergana Voigt
Darsteller
Maria Kwiatkowsky (Alice) · Pinar Erincin (Berivan) · Luk Piyes (Ilir) · Antje Westermann (Alices Mutter) · Geno Lechner (Schwester Clara)
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
KJF-Edition
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Diskussion
Ich wollte nicht, dass sie stirbt“, erzählt eine traurige Mädchenstimme gleich am Anfang – und während des ganzen Films fragt man sich: „Wer?“ Alice ist ein schüchternes und gehemmtes Mädchen, nicht hübsch, fast hässlich, wenn nicht in manchen Momenten ein fast in sich gekehrtes Lächeln ihr Gesicht beleuchten würde. „En garde“ heißt der Ruf, der beim Fechten einen Angriff einleitet. Beide Mädchen haben sich irrtümlich in diesen Kurs eingetragen, weil Berivan bei dem Wort an Handarbeit dachte. Die ersten ungeschickten Schritte in dem eleganten Kampfsport spiegeln die Beziehung der beiden ungleichen Protagonistinnen wider, zwischen Angriff und Verteidi-gung, Zuneigung und gekränktem Stolz. In ihrem zweiten Spielfilm erzählt Regisseurin Ayse Polat die Geschichte einer ungewöhnlichen Mädchenfreundschaft, aber auch die zwischen zwei fremden Welten: Berivan, die junge kurdische Asylbewerberin, hat nichts mehr außer ihren Erinnerungen, die sie in einer Plastiktüte immer mit sich herumträgt; und auch Alice hat niemanden, denn ihre eigene Mutter, die nie Liebe für sie empfand, steckte sie in ein katholisches Erziehungsheim. Hier herrscht eine rigorose Hackordnung unter den Mädchen. Alice bringt sich mit ihren Anpas-sungsversuchen an die aufsässigen Heimgefährtinnen immer wieder in neue Schwierigkeiten: So muss sie ihren Zimmergefährtinnen ihr Taschengeld abgeben und als Initiationsritus einen Walkman „beschaffen“. In dieser Umgebung, deren disziplinarische Probleme die Heimleiterin kaum noch in den Griff bekommt, fassen Berivan und Alice Vertrauen zueinander. Sie erzählen sich ihre Geheimnisse, etwa dass Berivan auf ihrem Weg nach Deutschland kurz auf dem Flughafen Bukarest landete und damit nach Rumänien als einem „sicheren Drittland“ abgeschoben werden könnte. Doch als Berivan eine Liebesbeziehung mit einem jungen kroatischen Pizzaboten anfängt, fühlt sich Alice ausgegrenzt – was verhängnisvolle Folgen hat, als die Heimleiterin scheinbar durch Alices Schuld hinter Berivans Geheimnis kommt. „En Garde“ lebt besonders von der detailreichen, fast liebevollen Zeichnung seiner Haupt- und Nebenfiguren und von der überzeugenden Arbeit der Darsteller. Die Rolle der Alice, die sich fast zwanghaft auf ihr eigenes Unglück zubewegt und im Laufe der Jahre ein überempfindliches Gehör entwickelt hat, ist die erste Arbeit der wunderbaren Darstellerin Maria Kwiatkowsky. Das scheue Mädchen orientiert sich an anderen Frauenfiguren, obwohl es gerade daran immer wieder scheitern muss. An der attraktiven Mutter, die nichts mit ihr zu tun haben will, und die Alice ganz eindeutig nicht als ihre Wunschtochter sieht. Oder an der Heimleiterin, einer verlorenen Idealistin, die für Hildegard von Bingen schwärmt, in den Beziehungen zu ihren Mitmenschen aber seltsam abgehoben wirkt und die kaum eine wirkliche Beziehung zu ihren Zöglingen aufbauen oder ihnen ethische Werte vermitteln kann. Schließlich Berivan, die sich ihren Einzelgängerstatus im Heim erkämpft hat und der die seltsam scheue neue Freundin zusehends auf die Nerven geht. Der Film zeichnet die kleine Welt des Erziehungsheims, den engen Rahmen von disziplinarischen Vorgaben und permanenten Regelverstößen nicht als autoritären Internatsfilm, sondern eher als Mikrokosmos organisierter Hilflosigkeit. „En Garde“ lebt aber auch von seiner ganz besonderen Atmosphäre, die die Regisseurin über eine Vielzahl skurriler Einzelelemente schafft: wenn Alice von ihrer verstorbenen Tante einen ausgestopften Hirschkopf geschenkt bekommt und mit dem übergroßen Requisit durch die Straßen wankt, wenn sie sich die langen künstlichen Fingernägel, ein Geschenk der Mutter, auf die Nägel heftet oder wenn es im Heim zu einer Feier kommt, die den Nonnen zunehmend entgleitet und in grotesken Exzessen ausartet. Ayse Polat nutzt auch das hypersensible Hörvermögen ihrer Protagonistin, um über den Ton eine irreale, bedrohliche, stellenweise absurde neue Wahrnehmungsebene aufzubauen. Man hätte dem Film noch mehr Skurrilität gewünscht, vielleicht auch etwas mehr Bosheit bei der Zeichnung der Protagonisten und an manchen Stellen etwas weniger psychologische Fernsehspiellogik – etwa Alices Verbrechen aus Edelmut. Trotzdem besticht der Film durch die Natürlichkeit seiner Hauptdarstellerinnen und seine wunderbar bizarren Momente.
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