American Splendor

- | USA 2003 | 101 Minuten

Regie: Shari Springer Berman

Semibiografisches Porträt des Comic-Sammlers und -Autors Harvey Pekar, der über 20 Jahre lang seine alltäglichen Erfahrungen in Familie, Job und seiner Heimatstadt Cleveland in unregelmäßig erscheinenden Comic-Büchern verarbeitete. Der Film verbindet Zeichentrick-Animationen mit gespielten Szenen und dokumentarischen Aufnahmen, wobei die Verquickung von Realität und Fiktion, Anekdote und inszenierten Momenten über das stilistische Prinzip hinaus zur abgründigen Metapher einer ironisch-depressiven Selbstbespiegelung wird. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
AMERICAN SPLENDOR
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Good Machine/HBO
Regie
Shari Springer Berman · Robert Pulcini
Buch
Shari Springer Berman · Robert Pulcini
Kamera
Terry Stacey
Musik
Mark Suozzo
Schnitt
Robert Pulcini
Darsteller
Paul Giamatti (Harvey Pekar) · Hope Davis (Joyce Brabner) · Judah Friedlander (Toby Radloff) · Chris Ambrose (Superman) · Joey Krajcar (Batman)
Länge
101 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Sunfilm (1:1.85/16:9/Dolby Digital 5.1/dts)
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Diskussion
Harvey Pekar ist der geborene Verlierer. Zuerst verliert er seine Stimme, dann verlässt ihn seine zweite Ehefrau. Ans Gute im Menschen glaubte er nie. Doch Harvey ist keine Filmfigur, es gibt ihn wirklich. Er ist der Star und Autor des unregelmäßig erscheinenden Comics „American Splendor“, der außerhalb Amerikas nur einer kleinen Schar von Eingeweihten ein Begriff ist. Der gleichnamige Film ist eine Mischung aus Dokumentation seines Werdegangs und fiktionalen Versatzstücken. Pekar arbeitet als Aktensortierer in einem Krankenhaus in Cleveland, seine Passion ist das Herummosern; alles in seinem Leben betrachtet er mit Skepsis und einem tiefen Pessimismus. Harvey kennt nicht nur Murphys Law, er lebt danach, wenn auch unfreiwillig. Er weiß, dass die Schlange im Supermarkt, bei der er ansteht, immer diejenige ist, die am langsamsten vorwärts kommt. Er ist ein Mensch, der Phobien aufbaut, um sie anschließend zu analysieren. Verhindern kann und möchte er sie gar nicht. Der Zufall will es, dass er bei einem Garagenverkauf in den 1970er-Jahren auf Robert Crumb trifft, der damals schon für seine Comicreihe „Fritz the Cat“ berühmt war. Beide verbindet die Leidenschaft, Comics zu sammeln. Eines Tages sitzen sie in einem Café zusammen, wo Pekar über sein Dasein lamentierte, über die Komplexität des „normalen“ Lebens und dass es im Grunde der kleine Mann sein müsste, den man als Alltagsheld in einem Comic feiert sollte. Doch Pekar ist nicht einfach nur ein depressiver Mensch, der um die verpassten Chancen in seinem Leben trauert; er besitzt die Fähigkeit, sich selbst zum Objekt der Beobachtung zu machen. So hat er alltägliche Situationen aus seinem Leben notiert, die Crumb begeistern; er will sie sogleich illustrieren – die Geburtsstunde von „American Splendor“.

„American Splendor“ avancierte zum kleinen Erfolg und genoss unter Fans und Kritikern bald einen außergewöhnlichen Ruf. Doch Pekars Lebens ändert sich dadurch kaum – bis sich ein Fan bei ihm meldet, um eine verpasste Ausgabe nachzubestellen: Joyce Barbner, die mindestens ebenso viele psychische Absonderlichkeiten aufweist wie Harvey selbst: Bereits bei ihrer ersten Verabredung schlägt sie vor, dass man die Kennenlernphase doch überspringen und gleich heiraten könne. So geschieht es. Bis heute ist Joyce die Frau an Harveys Seite. Sie besitzt genau wie er die Fähigkeit, jede zwischenmenschliche Interaktion genau zu analysieren und zu kategorisieren. Allerdings beklagt sie weniger die tagtäglichen Hürden ihres Lebens, sondern betreibt eine fast nüchterne Bestandsaufnahme all der Kleinigkeiten, die das durchschnittliche Leben verkomplizieren. Joyce’ Beobachtungsgabe mündet in ein umfassendes System der Prophylaxe: So bittet sie Harvey nicht deshalb um ein Glas Wasser und ein Aspirin, weil sie Kopfschmerzen hat, sondern weil sie möglicherweise kommende Kopfschmerzen verhindern will. Auch das Arbeitsumfeld Harveys ist ein Sammelsurium skurriler Gestalten. Toby Radloff ist ein Kollege mit leicht autistischen Zügen, der sich selbst als Eierkopf der Arbeiterklasse bezeichnet, sich aber mit seiner klaren Sprache wunderbar einfügt. Als der echte Harvey und der echte Toby um einen Napf mit verschieden farbigen Bonbons herumstehen, meint Toby, eine Sorte als Kirschgeschmack und eine andere als Zimt identifizieren zu können. Ob er das durch bloßes Ansehen unterscheiden könne, fragt ihn Harvey. „Nein, ich kann das nicht. Dazu muss ich sie mir erst einmal in den Mund stecken“, antwortet Toby.

Es sind diese seltsamen Charaktere, die den Reiz des Films ausmachen, gerade weil in Zwischensequenzen immer wieder das echte Umfeld Harveys gezeigt wird und man den Eindruck gewinnt, dass die Schauspieler sehr exakte Umsetzungen der realen Personen sind. Die Verquickung von Realität und Fiktion, von gesprochener Anekdote und inszenierter Szene, ist dabei eine Parallelität zu den Comics. Wenn der reale Harvey in einem Zwischenschnitt in einem weißen Studio sitzt und um Abgrenzung gegenüber dem ihn spielenden Schauspieler bemüht ist („Hier sieht man den Typen, der mich spielt. Er sieht zwar nicht aus wie ich, aber sei’s drum“), geschieht dies vielleicht auch deshalb, weil der gespielte Harvey so nah am Original ist, dass es ihm selbst unheimlich wird. Und wenn am Schluss seine Pensionierung im Krankenhaus gefeiert wird, dann nicht als gespielte Szene – es ist die echte Feier mit dem echten Harvey.

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