Zwölf Stühle (2004)

Komödie | Deutschland 2004 | 198 Minuten

Regie: Ulrike Ottinger

Ein russischer Lebemann macht sich auf die Suche nach einem Juwelenschatz, den seine Schwiegermutter in den zwölf Stühlen einer Salongarnitur versteckt hat. Bald beteiligen sich ein Gauner und ein Priester an der turbulenten Jagd. Episch-burleske Romanverfilmung als episodische Revue, deren gogolsche Groteskereien und absurde Zukunftsträumereien sich zu einer luziden Gesellschaftsparabel verdichten. Eine mentalitätsgeschichtliche "Tour d’horizon" durch die ehemaligen GUS-Staaten, aberwitzig und einfallsreich, voller Details und ausgefeilter Bild-Kompositionen. (Teils russisch m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Ulrike Ottinger Filmprod.
Regie
Ulrike Ottinger
Buch
Ulrike Ottinger
Kamera
Ulrike Ottinger
Schnitt
Bettina Blickwede
Darsteller
Georgi Delijew (Ostap Bender, Gauner) · Genadi Skarga (Adelsmarschall) · Swetlana Djagilewa (Schwiegermutter) · Boris Raev (Vater Fjodor) · Olga Rawitzkaja (Witwe Grizazujewa)
Länge
198 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Komödie | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Der andere Blick auf das Eigene und auf die ferne Welt kennzeichnet Ulrike Ottingers Filme, die sich weitab vom Mainstream bewegen und zwischen ethnografischer Beobachtung und kulturhistorischer Erkundung fast immer auf Achse sind: eigenwillige Road Movies in einem Artefakte-Universum ästhetischer Reflexionen und Ausschweifungen. Ihre Filme sind Expeditionen in unbekannte Territorien, Tableaux vivants aus Architektur, Dekor und Kostüm, die zu Vehikeln von Träumen und Visionen avancieren. So auch ihr jüngstes Werk, eine Adaption des gleichnamigen pikaresken Romans der Autoren Ilya Ilf und Jewgenij Petrov, der seit seinem Erscheinen Ende der 1920er-Jahre als eine von unerschöpflichem Einfallsreichtum getragene Satire auf die turbulenten Umwälzungen in den Gründerjahren der Sowjetunion gilt. Auf dem Sterbebett vertraut eine russische Aristokratin ihrem Schwiegersohn an, dass sie ihren Millionenschmuck bei Ausbruch der Revolution in einem der zwölf Stühle ihrer mittlerweile enteigneten Salongarnitur versteckt hat. Der vertrottelte Schwiegersohn Worobjaninow, ein ehemaliger Adelsmarschall und Lebemann, der als Beamter in einer Kleinstadt untergetaucht ist, macht sich als erster auf die Suche nach dem Schatz. Vater Fjodor, das Beichtgeheimnis für sich nutzend, folgt ihm auf Schritt und Tritt. Der Dritte im Bunde bei der Jagd nach den Juwelen wird der „große Kombinator“ Ostap Bender, ein Ganove von ebenso kaltschnäuziger Frechheit wie spitzbübisch-charmanter Schläue. Schon bei der ersten Station weicht er nicht mehr von Worobjaninows Seite, trotzt ihm einen Gesellschaftervertrag ab, wird schließlich sein Chef und bringt all die über das ganze Sowjetreich verstreuten Stühle Stück um Stück zusammen. Deren Polster bergen allerdings nicht die ersehnte Beute. Bevor dem letzten Stuhl sein Geheimnis entrissen wird, befreit sich Worobjaninow heimtückisch von dem schlitzohrigen Gauner. Jene Jagd zweier geldgieriger Männer nach einem verlorenen Schatz bildet die Folie für eine Filmhandlung, die wie der Roman regelrecht ins epische Erzählen ausufert: eine Episoden-Revue, die auf psychologisch motivierte Charaktere und eine die Handlung vorantreibende Spannungsdramaturgie verzichtet, stattdessen auf Heterogenität, Detailfülle und ausgefeilte Bild-Kompositionen setzt. Treu im Geiste der burlesken Literaturvorlage, die Situationskomik und chaplineske Tücke des Objekts mit gogolschen Groteskereien und absurden Zukunftsträumen zu einer luziden Gesellschaftsparabel verdichtet. In jeder Hinsicht bleibt sich Ottinger zudem in der Fülle der Zeit treu: Mit 198 Minuten sind ihrer Fabulierlust kaum Grenzen gesetzt. Den Schauspielern wiederum wird viel Raum zur Entfaltung gegeben. Die beiden ukrainischen Hauptdarsteller Georgi Delijew und Genadi Skarga agieren mit allen Tricks der Comedia dell’arte, verkörpern Prototypen ewiger Verhältnisse von Herr und Knecht: Kunstfiguren in skurrilen, manchmal auch kalauernd-komischen Situationen; inmitten von Schauplätzen in Odessa und auf der Krim, denen die Aura des Realen anhaftet und die im Dekor alles andere als historisch sind. Vielmehr handelt es sich um ästhetisch überhöhte Alltagsorte: Gabelung zweier Zuströme des Dnjepr, Tatarendörfer, eine apokalyptische Müllhalde, als Kulisse eingesetzte Plattenbau-Ruinen, elegante Kurorte, zerfallende Hinterhöfe und prächtige Passagen bis hin zu einer Treppe, die Assoziationen an Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ (fd 20 707) heraufbeschwört. Auf diese Weise werden Vergangenheit und Gegenwart, literarische und filmische Motive, russisch sprechende Darsteller und auf deutsch vorgelesene Romanpassagen, Artifizielles und Reales miteinander montiert und kombiniert. Dass bei der rasanten Geschichte und dem Figurenreigen die russisch-sowjetische Historie zu einem Katarakt von Personen und Orten mutiert, der Analogien zwischen gestern und heute nahe legt, zeugt von inszenatorischem Mut. Nichts weniger als die Mentalitätsgeschichte einer Gesellschaft hat Ottinger im Sinn, wenn sie den „lebenden Leichnam“ der (post-)sowjetischen Gesellschaft mit ihren Ursprüngen in der frühen Sowjetzeit parallelisiert, als der Reichtum noch kollektiviert wurde. Damals wie heute scheinen List und Improvisationstalent als individuelle Überlebensstrategien unabdingbar zu sein, um die allmächtige Bürokratie und allgegenwärtige Korruption unbeschadet zu überstehen. Jene analytische Deutungsebene aber bleibt im Film eher diffus; verschiebt sich bei aller Beschwörung einer Geschichte, die in die Gegenwart fortwirkt, auf die Ebene von Bildern, die ihrerseits nicht selten an einer pittoresken Oberfläche haften bleiben. Vielleicht hat es mit der stilistischen Eigenart von Ottingers Kamera zu tun, die meist in dokumentarischer Manier ein unbeteiligter Zeuge der ablaufenden, theatralisch in Szene gesetzten Attraktionen ist. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Geschichte wider Erwartung nicht an ihr Ende gelangt ist, sich nach Marx als Tragödie oder Farce wiederholt – ohne Halt zu machen vor der „Luxusetage der Ästhetik“.
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