Südostpassage

Dokumentarfilm | Deutschland 2002 | 363 Minuten

Regie: Ulrike Ottinger

Ulrike Ottinger erkundet in ihrem dreiteiligen filmischen Essay Regionen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Ihre Expedition führt sie von Wroclaw (Breslau) nach Odessa, über Polen, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien nach Varna und die anliegenden Dörfer am Schwarzen Meer, um schließlich in Istanbul zu enden. Dabei entstehen eindrückliche Bilder von Menschen und Landschaften. Allerdings verharrt das Epos in einer ahistorischen Haltung; der Versuch, durch die Kontingenz von Blicken und Orten medial kodierte Bilder zu hinterfragen, geht nicht auf. - Ab 14 möglich.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Ulrike Ottinger Filmprod.
Regie
Ulrike Ottinger
Buch
Ulrike Ottinger
Kamera
Ulrike Ottinger
Schnitt
Ulrike Ottinger
Länge
363 Minuten
Kinostart
20.01.2005
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14 möglich.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Als Ulrike Ottinger 2001 durch Südosteuropa reiste, hatte sie den Roman „Zwölf Stühle“ des Odessaer Autorenpaares Ilja Ilf und Jewgenij Petrow im Gepäck, der nach ihrer Einschätzung „den im Umbruch befindlichen ehemaligen GUS-Staaten einen präzisen allegorischen Spiegel vorhält“. Bis auf die Kleinigkeit, dass es sich im Fall der Ukraine, wo die Handlung des Romans vorwiegend spielt, um eine ehemalige Sowjetrepublik handelt, die dem heutigen GUS-Verbund seit 1991 angehört, versuchte Ottinger jenes allegorisch-satirische Potenzial in ihrem gleichnamigen Spielfilm (fd 36 865) zu generieren. Während sie aber für die Adaption des Schelmenromans aus den 1920er-Jahren noch zwei weitere Recherchereisen in die Ukraine veranschlagt hat, geht ihre dokumentarische Erkundung „Südostpassage“ auf die erste Filmreise durch die Landstriche jenseits der Oder und Neiße zurück: Mittel-, Ost- und Südosteuropa in 130 Minuten, gefolgt von zwei Stadtexkursionen durch Odessa (140 Min.) und Istanbul (90 Min.). Ottingers meist Format sprengende Werke sorgen schon durch ihre extreme Überlänge für Aufsehen. Fast zwangsläufig ergab sich diese bei den Dokumentationen, mit denen die Weltenbummlerin in den letzten 20 Jahren reüssierte: Filmische Forschungsberichte aus dem Fernen Osten wie „China – die Künste – der Alltag“ (1970) oder „Taiga“ (fd 30 572), elegische Chroniken des Abschieds wie in „Countdown“ (1990) über die DDR kurz vor der Währungsunion, oder das Opus „Exil Shanghai“ (fd 32 800). Mit „Südostpassage“ hätte sie für sich reklamieren können, den längsten Beitrag zum Thema fertig gestellt und einen Trend um weitere Nuancen bereichert zu haben: das neu entbrannte Interesse an Ost- und Südosteuropa als Spielfilm-Sujet, dokumentarisches Neuland, als eine verschüttete, wieder zu belebende Tradition. Ein Thema, das seit der Wende in den Arbeiten Volker Koepps allgegenwärtig ist oder im Zuge der Globalisierung in Dokumentarfilmen von Zoran Solomun („Der chinesische Markt“) oder Minze Tummescheit („Jarmark Europa“) zum Anschauungsmaterial über riesige Schattenökonomien oder die Völkerwanderung aus der Sicht jener, die um ihr Überleben kämpfen, verarbeitet wird. In ihrem Reise-Essay will Ottinger diesen Status quo, den andere für strukturelle Anthropologie nutzen, nicht analysieren. Vielmehr registriert sie ihn ruhig, fast gemächlich mit einem ethnologischen Blick, der zu den Menschen Distanz hält, um sich detaillierter an skurrilen Gegenständen und malerisch „unversehrten“ Regionen zu erfreuen. Von Berlin aus begibt sie sich auf eine Expedition, die sie von Wroclaw (Breslau) nach Odessa führt, über Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien bis nach Varna (Teil I); weiter durch Odessa und die anliegenden Dörfer am Schwarzen Meer (Teil II), schließlich wochenlang durch Istanbul (Teil III), nur weil die von ihr konzi-pierte Südostpassage über den Bosporus hinausgeht. 90 Minuten dauern allein jene orientalischen Impressionen, ohne dass ersichtlich wird, warum die Autorin ihren 363-minütigen Bericht in der ottomanischen Kapitale ausklingen lässt, aber einen weiten Bogen um das frühere Jugoslawien macht. Beliebigkeit und Konfusion: diese Begriffe erfassen die Schwächen des Epos, das in einer ahistorischen Haltung verharrt und durch die Kontingenz von Blicken und Orten medial kodierte Bilder zu hinterfragen versucht. Als ob deren Beiläufigkeit einen „Gegenblick“ zum öffentlichen Diskurs bereits verbürgen würde, delegiert Ottinger die von den Bildern verweigerten Interpretationsansätze an einmontierte Texte und Off-Kommentare. Im Auftrag der „documenta 11“ entstanden, trägt der Film den Untertitel „Eine Reise zu den neuen weißen Flecken auf der Landkarte Europas“; er nimmt für sich in Anspruch, Orte und Welten zu erkunden, die abseits des medialen Interesses dem Vergessen preisgegeben sind, und ein Porträt der Menschen am Rande Europas zu liefern, denen es nicht gelungen sei, vom Ende des Kalten Krieges zu profitieren. Folglich findet die Kamera auch das vor, was sie sehen will: Kirchen und Hochzeiten, Straßenfeste und verfallene Häuser, Bauern auf Heukarren und auf Wochenmärkten, Frauen hinter ihren Händlertischen, die unter Fleischbergen und Naturprodukten bersten. Vorgefasste Meinungen gehen Hand in Hand mit Klischees einer vormodernen Welt fernab der kulturellen Zentren. Bedenklich an dieser Verkürzung der osteuropäischen Hemisphäre auf archaisch anmutende Peripherien ist die Denkfigur der „neuen weißen Flecke“. Gerade vor dem Mauerfall war Osteuropa der Verlierer des Kalten Krieges: fremdbestimmt, eingesperrt in ein totalitäres System und ins Chaos der Mangelwirtschaft. Jene Verwahrlosung nach der postkommunistischen Umstrukturierung in Industrie und Landwirtschaft, der Ottinger auf der Spur ist, kommt deshalb „nur“ einer Fortsetzung alter kollektiver Erfahrungsmuster gleich: etwa seit Jahrzehnten zu den weißen Flecken auf der Landkarte des desinteressierten (West-)Europas zu gehören. Paradoxerweise zeigt Ottinger aber das Gegenteil dessen, was sie zeigen wollte: idyllische Landstriche und pittoreske Beobachtungen, Touristen-Bilder aus dem vorbeifahrenden Auto, die als Projektionsfläche nur partiell mit der sozialen Realität zu tun haben. Hier rächt es sich, dass die Filmemacherin diese Kulturlandschaften zuvor nie bereist hat und sich nach eigener Auskunft parallel auf einer literarischen Recherche befand, um die Romane, Erzählungen und Gedichte dieser Länder kennen zu lernen. Auch die Sprachbarrieren soll der Film durch literarische Texte kompensieren. Weder die preziösen Zitate noch die teilweise verfehlt platzierten Lieder können jedoch mehr über die gehobene Oberflächlichkeit dieses Blicks hinweg täuschen.
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