Stimmen aus dem Wald

Dokumentarfilm | Israel 2003 | 93 Minuten

Regie: Limor Pinhasov Ben Yosef

Dokumentarfilm über die Nachwirkungen der NS-Kriegsverbrechen nahe dem litautischen Dorf Ponar, wo zwischen 1941 und 1944 Zehntausende Juden getötet wurden. Schockierende Studie über eine verdrängte Wirklichkeit, die ratlos macht angesichts der hartnäckigen Weigerung der Nachgeborenen, sich mit den Gräueln der Vergangenheit auseinander zu setzen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MEKIVUN HAYAAR | OUT OF THE FOREST
Produktionsland
Israel
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Cicero Films Prod./Noga TV/IFS
Regie
Limor Pinhasov Ben Yosef · Yaron Kaftori Ben Yosef
Buch
Limor Pinhasov Ben Yosef · Yaron Kaftori Ben Yosef
Kamera
Eithan Haris
Musik
Mystaria Sound Group
Schnitt
Limor Pinhasov Ben Yosef
Länge
93 Minuten
Kinostart
20.01.2005
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb

Diskussion
Im Sommer 2000 veröffentlichte der Filmemacher Thomas Harlan seinen Roman „Rosa“, der es sich auf ästhetisch anspruchsvolle Weise zur Aufgabe machte, die Spuren des Genozids an den europäischen Juden aus der Perspektive des polnischen Bodens, der polnischen Pflanzen und polnischer Augenzeugen zu rekonstruieren. Diesem in jeder Hinsicht skandalösen Text – skandalös, weil er sich an das Unsagbare, Nicht-Repräsentierbare heran wagt – antwortet nun die in jeder Hinsicht erschreckende, ja Furcht einflößende Dokumentation von Limor Pinhasov Ben Yosef und Yaron Kaftori Ben Yosef. Es ist der Sommer 1941. „Schönes Wetter heute. Es weht ein leichter Wind, und es ist recht warm. Aus dem Wald sind Schüsse zu hören, wahrscheinlich handelt es sich um eine Übung der Armee.“ Westlich von Wilna, in Litauen, liegt das Dorf Ponar. Dessen Einwohner betrachten sich als Polen, was sie bis zum Zweiten Weltkrieg auch waren. In den nahen Wäldern wurden zwischen 1941 und 1944 Zehntausende Menschen in großen Gruben getötet und anschließend in Massengräbern verscharrt. Ein Bewohner von Ponar, K. Sakowicz, hat diese Verbrechen in seinem Tagebuch festgehalten, das erst in den 1990er-Jahren entziffert werden konnte. Die Historikerin Rachel Margolis erzählt von der Entdeckung des Tagebuchs, berichtet davon, dass Sakowicz die Tage der Massenhinrichtungen, die er offenbar aus einem Versteck beobachtete, kalendarisch dokumentiert habe und seine Aufzeichnungen in Limonadenflaschen im Wald vergrub. Die Filmemacher sind nach Ponar gereist und haben die Einwohner, ältere und jüngere, nach ihren Erinnerungen und Eindrücken befragt. Manche Antwort fällt lapidar aus: „Die Deutschen mochten die Juden nicht, deshalb brachten sie sie um“, sagt ein älterer Mann rückblickend und zuckt mit den Achseln. Auf ihrem Weg durch den Wald sinniert eine Zeitzeugin einmal darüber, wie es wäre, wenn die Bäume sprechen könnten. Was die wohl erzählen würden? Viele der Menschen, die hier interviewt werden, können sich erinnern und auch sprechen, weigern sich aber, über ihre Erinnerungen zu diskutieren. Wer führte die Massenhinrichtungen durch? Eine Frau erzählt von Tschechen, die eigens dafür herangeschafft wurden. Höchstens einige Litauer hätten sich an dem Massaker beteiligt. Später wird klar, dass junge Litauer – „betrunkene Dämonen“ werden sie einmal genannt – die Hinrichtungen durchführten. Alle, so ein Mann, hätten davon gewusst. Die fürchterlichen und fürchterlich detaillierten Erinnerungen, die durch Überlebende, Zeitzeugen und das Tagebuch ausgebreitet werden, unterscheiden sich nur in Nuancen voneinander. Was sich allerdings fundamental unterscheidet, ist der Gestus, mit dem die Erinnerungen mitgeteilt werden. Die Bewohner von Ponar wirken distanziert bis gleichgültig, haben kein Gespür für die Frage, die der Film zunächst fassungslos, dann immer zorniger formuliert: Wie kann man an einem Ort leben, dessen Erde Blut getränkt ist, dessen Bäume man nicht umholzen kann, weil so viele Kugeln in ihnen stecken? Eine Frau erzählt unbekümmert, dass sie sich „dort hinten“, also inmitten des Todesfeldes, ein Stück Land gekauft hat, wo sie ihre Kartoffeln anbaut. Den Überlebenden aber treiben die Erinnerungen die Tränen in die Augen und lässt ihre Sprache stocken. Rachel Margolis bringt die Sache schließlich auf den Punkt: „Nicht nur die Nicht-Juden von Ponar, sondern alle Nicht-Juden, die in der Nähe von Konzentrationslagern lebten, verhielten sich zum Geschehen passiv und indifferent. Weil es sie nicht betraf, kümmerte es sie nicht.“ Ihre Schlussfolgerung: „Es liegt in der menschlichen Natur.“ Und: „Ich weiß nicht, wie die Juden sich verhalten hätten.“ Sakowicz' Tagebuch, in dem Fakten dokumentiert sind, aber an keiner Stelle von Gefühlen des Autors die Rede ist, sei in dieser Hinsicht symptomatisch. Die Texte sollten vielleicht nach dem Krieg zu wissenschaftlichen oder journalistischen Zwecken herangezogen werden. Die Filmemacher durchstreifen die Wälder, in denen die Natur fast alle Spuren des Verbrechens überwuchert hat. Sie spüren immer neue Augenzeugen des Geschehens auf, konfrontieren Nachfahren möglicher Täter mit ihren Nachforschungsergebnissen. Manches wird eingeräumt, vieles bestritten. „Nur jemand, der nicht hier gelebt hat, kann diesen Unsinn glauben“, erklärt eine Frau, lachend. Mit den Kleidern, die die Opfer vor ihrer Ermordung ablegen mussten, kursierte ein reger Handel. „Aus Ponar“ war ein bekannter Terminus in der Gegend. Noch heute sind die Menschen überzeugt, dass es kaum Möglichkeiten des Widerstands oder der Solidarität gegeben hätte. Kurz vor Schluss des Films heißt es dann über die Opfer von Ponar: „Wer es wirklich wollte, hat auch überlebt.“ Der Film antwortet auf diese Zumutung mit einem singulären Beispiel von Zivilcourage, was die Ratlosigkeit, die diese schmerzhafte Dokumentation beim Zuschauer hinterlässt, allerdings kaum lindert. Alle Wege, so erzählt ein jüdisches Lied im Abspann, führen nach Ponar, aber keiner führt von dort zurück.
Kommentar verfassen

Kommentieren