Kammerflimmern

Drama | Deutschland 2004 | 101 Minuten

Regie: Hendrik Hölzemann

Einen jungen Rettungssanitäter treibt die Konfrontation mit dem Leid der Menschen in eine Sinnkrise, aus der ihm nur das Traumgesicht einer jungen Frau einen Ausweg verheißt - bis er ihr in der Realität begegnet. Der Debütfilm balanciert sein existenzialistisches Schwergewicht mit schwarzem Humor aus und erzählt hellsichtig vom Leben in transzendentaler Obdachlosigkeit. Die temporeiche Mischung aus mythischer Liebesgeschichte, rauschhaften "Coming-of-Age"-Impressionen und semidokumentarischen Szenen aus dem Sanitätsalltag verdichtet sich zu einer stilsicher erzählten Reise in die Schattenzonen der deutschen Gesellschaft. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Constantin Film/Bavaria/BR/arte
Regie
Hendrik Hölzemann
Buch
Hendrik Hölzemann
Kamera
Lars Liebold
Musik
Blackmail · Lee Buddah
Schnitt
Patricia Rommel
Darsteller
Matthias Schweighöfer (Crash) · Jessica Schwarz (November) · Jan-Gregor Kremp (Fido) · Florian Lukas (Richie) · Bibiana Beglau (Dr. Tod/Frau Neumann)
Länge
101 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Highlight (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt., dts dt.)
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Diskussion
Der Letzte räumt die Toten weg. „Gott ist nämlich ein sadistisches Arschloch. Immer, wenn man jemandem sagt ,Ich liebe dich‘, dann nimmt er uns diese Person, weil er da oben so verdammt einsam ist!“ Das hat der junge Rettungssanitäter Crash von seiner verbitterten Großmutter gelernt. Ebenso wie: „Wenn es gar nicht mehr weiter geht, hilft nur noch eins: Ein- und Ausatmen!“ Seitdem er seine Eltern als Kind bei einem Autounfall verlor, ist Crash traumatisiert. Seiner Arbeit auf den Straßen Kölns geht er leicht abwesend nach. Immer wieder sieht er in seinen Träumen das Gesicht einer jungen Frau, die ihm Erlösung zu versprechen scheint. Eines Tages steht sie, die November heißt, ihm dann tatsächlich gegenüber, verzweifelt, tränenüberströmt, hochschwanger, neben der Leiche des drogensüchtigen Kindsvaters. Jungregisseur Hendrik Hölzemann fiel vor einiger Zeit durch sein stimmiges, realitätsgesättigtes und dabei angenehm unprätentiös vor sich hin mäandernde Drehbuch für Benjamin Quabecks Spielfilmdebüt „Nichts bereuen“ (fd 35 143) auf. Bei der Verfilmung seines zweiten Drehbuchs „Kammerflimmern“ hat er selbst die Regie übernommen. Dabei gelang es ihm, das Niveau von „Nichts bereuen“ nicht nur zu halten, sondern durch ein Mehr an Verbindlichkeit und Ernst noch zu übertreffen. „Kammerflimmern“ ist eine auch formal ganz eigenwillige, primär auf die Kraft gesteigerter Emotionen setzende Mischung aus mystischer Liebesgeschichte, rauschhaften „Coming-of-Age“-Impressionen und fast dokumentarischen Szenen aus dem Rettungssanitäter-Alltag. Die Helfer werden fast immer nur dann gerufen, wenn kaum noch Aussicht auf Rettung besteht. Hier bietet der Film bestechend schmerzhafte Einblicke in Wohnungen, in denen Frauen misshandelt werden, Opfer von Schlaganfällen sabbernd im Sessel sitzen oder Menschen sich mehr oder weniger systematisch durch Alkohol und Drogen zu Grunde richten. Um jedes Leben wird gekämpft, doch häufig vergeblich; dann muss die Notärztin gerufen werden, die unter den Rettungssanitätern nur „Dr. Tod“ genannt wird. Mit solchen schwarzhumorigen Pointen und markigen One-Linern arbeitet der Film seinem existenzialistischen Gestus entgegen. Angesichts dessen, was die Sanitäter Tag für Tag und Nacht für Nacht erleben, stehen Fragen im Raum, warum Menschen sich solche Dinge selbst zufügen oder warum „Gott“ so etwas zulässt. Durchlässig sind hier die Ebenen zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Erinnerung, Wunsch und Wirklichkeit, Leben und Tod. In immer neuen Szenen, von denen viele wegen ihrer Pointiertheit das Zeug zu Referenzszenen oder -dialogen unter Cinephilen haben, wird das Thema selbstbewusst variiert und durchdekliniert. Es gilt mit Martin Luther: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Was im Falle von Crashs Biografie psychologisch stringent und nachvollziehbar entwickelt wird, bezieht sich auch auf die anderen Figuren, die allesamt verloren durch ihr Leben irren, fast schmerzhaft einsam sind und sich nach Nähe oder Sinn sehnen. Da ist der Kollege Fido, der die Diskrepanz zwischen Arbeitsalltag und Etepetete-Ehe nur noch durch eine extreme Abgebrühtheit aushält. Fido nutzt seine Einsätze für amouröse Treffen mit Dr. Tod, während sein Kollege Richie coole Sprüche klopft und immer neue Drogen ausprobiert, auf der Suche nach „Antworten“, für die ihm keine Fragen einfallen. Oder der Obdachlose „Hundemann“, der trinkt, bis er das Bewusstsein verliert, weil ihn nur dann schöne Träume heimsuchen. „Kammerflimmern“ steckt voller Zyniker, Träumer und Drogen aller Art; seine Personage besteht aus lauter verzweifelten Menschen, die als Strandgut in Straßen herumliegen, und jugendlichen Selbstmörderinnen, die partout nicht gerettet werden wollen. Manchmal sinken sich die Figuren vor lauter Overdrive erschöpft in die Arme und beginnen zu weinen. Das sind Momente größter Zärtlichkeit. Bei all dem ist „Kammerflimmern“ aber nicht lückenlos depressiv und thesenhaft (dass Crash zuhause gerne Lemminge-Videos anguckt, ist vielleicht eine Spur „Todestrieb“ zuviel), sondern eher leicht und ratlos, manchmal zudem sehr komisch und sonst zumeist melancholisch. Als dramaturgisches Gegengewicht zum vorgeführten Schrecken eines existenziellen Geworfenseins muss die Liebesgeschichte zwischen der hochschwangeren November und Crash herhalten. Das Filmpaar Jessica Schwarz und Matthias Schweighöfer, das bereits bei Dominic Grafs Filmen „Die Freunde der Freunde“ (2001) und „Kalter Frühling“ (2003) ähnlich überzeugte, formuliert sehr verhalten ein „Trotz alledem!“, wenngleich der Film auch hier sein Publikum nicht für dumm verkauft. Als wohltuende Relativierung der Glücksutopien von Zweisamkeit fungieren verschieden desaströse Paarbeziehungen, die der Film sehr aufmerksam registriert. So gibt es Gewalt in der Ehe bereits wenige Tage nach der Heirat, wie auch ein ritualisiertes Nebeneinanderherleben, bis hin zur Frau, die den Anblick ihres plötzlich erkrankten Ehemanns nicht ertragen kann und aus dem Zimmer rennt. Was „Kammerflimmern“ aber über solche private Idiosynkrasien weit heraushebt, ist seine popkulturelle Intelligenz. Denn der Film „erzählt“ nicht nur vom Leben in transzendentaler Obdachlosigkeit, er findet auch noch die richtigen Bilder und Töne dafür. „Kammerflimmern“ ist – abgesehen von deutlichen thematischen wie visuellen Anleihen bei Scorseses „Bringing Out The Dead“ (fd 34 225) – sichtbar und nachdrücklich von experimenteller Videoclip-Erzählweise geprägt, spielt mit Zeitraffer und Slow Motion, mit Flashback und Flash Forward, erlaubt sich unvermittelte Perspektivwechsel, Ellipsen und Fragmentierungen. Weil der Film aber über weite Strecken nicht nur vom Bewusstwerden der Krise, sondern auch von der Krise des Bewusstseins erzählt, wirken solche Effekte dem Tonfall des Films angemessen und nicht manieriert. Weil zudem auch der sorgfältig kompilierte Soundtrack, verantwortet vom stets zuverlässigen Lee Buddah, noch voller brillant gearbeiteter Indie-Pop-Kleinode wie etwa der „Kings Of Convenience“, „Erdmöbel“ oder „Slut“ steckt, die den Tonfall des Films aufgreifen und ihn sowohl zu verallgemeinern als auch zu nuancieren vermögen, ist man fast versucht, von „Kammerflimmern“ als von einem erstaunlich dichten Generationenporträt über das Leben in Deutschland zu sprechen: Bonjour tristesse! Ganz zum Schluss wird Crash vom nahen Tod in einen dunkelgrünen Hain am Ende der Straße gelockt; ihn (medizinisch) noch zum Weiterleben zu „überreden“, scheint fast aussichtslos. Der Weg, den Hölzemann letztlich wählt, ist ein Glücksfall, ist er doch geprägt vom Mut zum reinen Melodram und zu Mitleid.
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