In weiter Ferne, so nah!

Drama | Deutschland 1993 | 146 Minuten

Regie: Wim Wenders

Im vereinten Berlin wird der Engel Cassiel zum Erdenbürger, als er ein kleines Mädchen rettet. Er durchstreift die Höhen und Tiefen des Lebens, findet alte und neue Freunde, und kann verändernd in die (Lebens-)Geschichten der Menschen eingreifen. Als die Menschen, die er liebt, bedroht sind, greift Cassiel, dessen Erdenzeit begrenzt ist, ein letztes Mal ein. Fortsetzung des Films "Der Himmel über Berlin", die durch vorzügliche Kameraarbeit und Schauspieler überzeugt. Weniger gelungen ist die bruchstückhafte kriminalistische Rahmenhandlung, doch die Botschaft des Films, seine Wärme und viele anrührende Momente entschädigen für diese Defizite. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Road Movies/Tobis
Regie
Wim Wenders
Buch
Wim Wenders · Richard Reitinger · Ulrich Zieger
Kamera
Jürgen Jürges
Musik
Laurent Petitgand
Schnitt
Peter Przygodda
Darsteller
Otto Sander (Cassiel) · Bruno Ganz (Damiel) · Horst Buchholz (Tony Baker) · Nastassja Kinski (Raphaela) · Willem Dafoe (Emit Flesti)
Länge
146 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras der Standard-Edition umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs. Die Special Edition (2 DVDs) enthält zudem ein "Making of", ein Werkstattgespräch zum Film zwischen dem Regisseur und dem Journalisten Roger Willemsen sowie ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
Kinowelt/Arthaus (16:9, 1.78:1, DD5.1 diverse)
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Diskussion
Als Wim Wenders 1987 seinen Film "Der Himmel über Berlin" (fd 26 452), die Geschichte des Engels Damiel, der aus Liebe zu einer Frau Mensch wird, mit der Einblendung "Fortsetzung folgt" enden ließ, war das eher als Gag und Verweis auf die vielen unendlichen Liebesgeschichten zu verstehen. Nun, sechs Jahre und zwei Filme später, hat Wenders sein Versprechen in die Tat umgesetzt. Doch auch in der Zwischenzeit war Wenders den Engeln, an die er glaubt - an jene, denen man im Laufe seines Lebens begegnet, wenn man Glück hat sowieso, aber auch an die unsichtbaren Sendboten -, nah. Auch in seinem Dokumentarfilm über den japanischen Modemacher Yamamoto schweben "Schutzengel" durch die Räume.

"In weiter Ferne, so nah!" ist die Geschichte von Damiels Mit-Engel Cassiel, der zunächst unsichtbar und ganz Engel - das schließt auch ein, daß er nur beobachten und nicht eingreifen kann - durch Berlin streift. Er beobachtet von der Siegessäule oder vom Brandenburger Tor aus, wandelt durch U-Bahn-Stationen und belauscht jugendliche Straßenbanden, sorgt sich um die kleine Raissa und ihre Mutter Hanna und lernt durch sie den alten Konrad kennen, der im Dritten Reich Chauffeur einer Nazi-Größe war. Häufig kreuzt der Detektiv Phillip Winter seinen Weg. Und wann immer es seine Engelszeit erlaubt, stattet er Damiel, der mit seiner Familie als Pizzabäcker glücklich in der wieder vereinten Stadt wohnt, einen Besuch ab und pustet ihm ganz leicht ins Ohr, nur um zu zeigen, daß er noch da ist.

Raissa zuliebe wird Cassiel Mensch. Als das Mädchen vom Balkon fällt, sprengt der Engel die Grenzen seiner Existenz, greift ein und rettet das Kind. Nun kann er fühlen, anfassen, riechen, die Welt farbig betrachten, Freude empfinden; er kann allerdings auch leiden -am Menschsein und am Verlust des Engelseins. Obwohl sich Damiel des Freundes annimmt, rutscht der zeitweilig ab und fängt sich erst wieder, als er an der Seite des windigen amerikanischen Geschäftsmanns Tony Baker eine Aufgabe als Faktotum und "Schutzengel" erhält: er rettet ihn in vor einer Gangsterbande, später wird er sogar sein Geschäftspartner. Doch Baker macht sein Geld mit Pornos für den Osten und Waffen für den Rest der Welt. Diesen Geschäften kann Cassiel, der sich als Mensch Karl Engel nennt, zwar Einhalt gebieten; er kann den alten Konrad, dessen Zeit bald abgelaufen ist, trösten, und er kann Baker wieder mit seiner Familie vereinen, doch er kann nicht verhindern, daß seine eigene (Lebens-)Zeit unweigerlich dem Ende zu eilt. Daran gemahnt ihn ein ums andere Mal der finstere Emit Flesti (= time itself), dessen Taschenuhr ohne Zifferblatt die Zeitlosigkeit der Zeit und ihre zeitliche Begrenzung zugleich symbolisiert. Als die Berliner Mafia all jene kidnappt, die Cassiel lieb und wichtig sind, und Raissas Leben erneut bedroht, muß der Ex-Engel ein letztes Mal eingreifen, diesmal unterstützt von Emit Flesti persönlich, der weiß, daß Cassiels Erdendasein nur noch wenige Augenblicke dauern wird.

Wenders' neuer Film, weitaus gelungener als "Bis ans Ende der Welt" (fd 29 137), greift neben seiner poetischen Engelgeschichte, die vom Eingreifen, vom Sich-Einlassen in diese nicht immer wohlgeordnete Welt handelt, eine Fülle von Themen auf, die im Berlin nach dem Fall der Mauer eine wichtige Rolle spielen: Geschäftemacherei und organisiertes Verbrechen, die Nazi-Zeit, die Schuldfrage, Gorbatschow hat einen Kurzauftritt und darf sich zur Befindlichkeit der Welt äußern. In all diesen Nebenaspekten und -handlungen droht sich der Film ein wenig zu verlieren. Zu vollgepackt erscheint die Geschichte, zu wenig durchdacht die Handlung, und da Wenders gewiß kein Action-Regisseur ist, ist die klassische Kriminalgeschichte zum Scheitern verurteilt. Da fehlt es am Timing, an stimmigen Übergängen, und die Rettung von Cassiels Freunden wird gar zur zusammenhanglosen Kintopp-Nummer, deren Hergang beim besten Willen nicht zu rekonstruieren ist.

Weniger und Konzentration auf den Kern der Geschichte wäre mehr gewesen. Das gilt auch für den Einsatz von Laurent Petitgands pathetisch-pastoraler Musik. Betrachtet man jedoch die Engel-Geschichte, so ist Wenders ein wundervoller Film gelungen. Dies liegt in erster Linie an Otto Sander, der seinen Cassiel so zärtlich und sanft anlegt, daß man ihm die vorbehaltlose Liebe, die er seinen Mitmenschen entgegenzubringen bereit ist, ohne weiteres abnimmt. Er strahlt Sanftmut und Ruhe aus, und in einer Szene, in der der Mensch gewordene Cassiel mit Hilfe von Artisten erneut "das Fliegen" lernt, springt die Freude, die der Schauspieler Sander gehabt haben muß, schier über. Gerade die kleinen Gesten und Nuancen überzeugen. Etwa der liebevolle Umgang der Ex-Engel miteinander; die Sanftheit, mit der Nastassja Kinski als Engel Raphaela Trost spendet; die Rührung, die Konrad (Heinz Rühmann) überkommt, als er begreift, daß er von einem Engel gefunden wurde. Das ist überhaupt die schönste Szene in diesem schönen Film. Konrad fragt sich, ob er sein Leben richtig gelebt habe, und der unsichtbare Engel Raphaela erinnert ihn daran, daß er sich bemüht habe, Mensch zu sein, das sei schon sehr viel. Dann beugt sie sich von hinten über ihn und küßt ihn ganz sanft auf den Kopf. Ein schönes Bild für die Liebe zu den Menschen, die Wenders' Film beseelt. Natürlich hat diese Szene nicht nur symbolische, sondern auch biografische Bedeutung. Sie setzt dem Schauspieler Heinz Rühmann zu Lebzeiten ein Denkmal, stellt den Bezug zu dessen Vergangenheit her, die im Dritten Reich nicht gerade rühmlich war, und vergibt dem alten Mann.

Im Gegensatz zu der Cannes-Fassung, wo der Film auf völliges Unverständnis stieß, ist die Verleihfassung um 22 Minuten gekürzt. Das mag einige Sprünge und Brüche der Handlung erklären, tut der Freude indes keinen Abbruch. Eines verlangt der überlange Film, dessen elegante Kameraführung besticht, seinen Zuschauem jedoch ab: eine vorurteilslose Bereitschaft, seiner Geschichte zu folgen. Wer die Botschaft des Films, die christlichen Symbole und die allegorische Bedeutungsebene in der dargebotenen Form nicht akzeptiert, wird mit diesem Film, der Wärme geradezu verströmt, nicht sonderlich warm werden. Zu dieser mitmenschlichen Wärme gehört auch die kaum versteckte Hommage an den amerikanischer Rockmusiker Lou Reed; auch so etwas wie ein Engel, denn es ist ja fast ein Wunder, daß der Ex-Junkie noch unter den Lebenden weilt. Vielleicht hat er ja bereits in den 70er Jahren die Botschaft des Films vernommen: "Ihr wähnt uns in weiter Ferne und doch sind wir so nah. Die Botschaft ist die Liebe."
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