Dealer (2004)

- | Ungarn 2004 | 163 (136 DVD) Minuten

Regie: Benedek Fliegauf

Der letzte Tag im Leben eines ungarischen Drogendealers, der sich nach einer Reihe ebenso deprimierender wie sich wiederholender Ereignisse in den Selbstmord flüchtet. Kein Film über Drogenkonsum und -abhängigkeit, sondern eine düstere Allegorie über die existenziellen Nöte des Daseins in einer von Entfremdung und Desorientierung beherrschten Welt. Der beeindruckende Film spiegelt auch inszenatorisch das apokalyptische Lebensgefühl seines Protagonisten, wobei er die Zeitempfindung des Publikums geschickt manipuliert und durch seine Bildsprache eine Fremdheit suggeriert, die eine magische Wirkung ausübt. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
DEALER
Produktionsland
Ungarn
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Inforg Studio/FilmTeam (Magyar Filmunió)
Regie
Benedek Fliegauf
Buch
Benedek Fliegauf
Kamera
Péter Szatmári
Musik
Raptors' Kollektiva
Schnitt
Károly Szalai
Darsteller
Felicián Keresztes (der Dealer) · Barbara Thurzó (Barbara) · Anikó Szigeti (Wanda) · Edina Balogh (Bogi) · Lajos Szakács (Vater)
Länge
163 (136 DVD) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Heimkino

Bei der DVD-Fassung (136 Min.) handelt es sich um eine vom Regisseur bearbeitete Kürzung des Kinofilms. Die Extras umfassen u.a. ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
absolut (16:9, 1.78:1, DD5.0 ungar.)
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Diskussion
Ein sperriger, minimalistischer Episodenfilm, der eine bewegliche Digitalkamera mit extrem statischen Figurenkonstellationen verbindet, in denen lange Monologe gehalten werden oder die Gespräche in Konflikt beladenen Auseinandersetzungen eskalieren. Junge Männer und Frauen bevölkern in ihren Alltagsrollen eine unbekannte, düstere Welt, die mit der Wirklichkeit durchaus identisch ist. In seiner elliptischen Dramaturgie und dokumentarischen Diktion erinnerte „Rengeteg“ (Wildnis) des jungen ungarischen Regisseurs Benedek Fliegauf (Jahrgang 1974) an den „Dogma“-Stil der dänischen Kinorebellen. Nach Auskunft des Filmemachers bediente er sich jedoch einer ästhetischen Praxis, der die Budapester Schule um Béla Tarr bereits in den 1970er-Jahren frönte. Noch finsterer nimmt sich die Skizze des heutigen Ungarns in seinem zweiten Kinofilm „Dealer“ aus, der Fliegauf neben György Pálfi („Hukkle – Das Dorf“, fd 35917) als einen der viel versprechendsten Nachwuchsregisseure seines Landes ausweist. Das asketische, in streng komponierten Totalen und Halbtotalen gefasste Porträt eines jungen Drogenhändlers, der alle Bezüge zu seiner Umwelt verliert und in der Selbstzerstörung das Heil sucht, fasziniert durch einen hypnotischen Bildersog, der sich außer dem unübersehbaren Einfluss Béla Tarrs der Filmsprache Andrej Tarkowskijs zu verdanken scheint, auch wenn der Autor auf David Lynch und Sergio Leone als Inspirationsquellen verweist. Ungarn gehört neben Japan zu den Ländern mit der höchsten Selbstmordrate; eine eigentümliche Melancholie zeichnet auch das ungarische Kino aus. Dieser Tradition bleibt Fliegauf in seinem eigenwilligen Psychodrama verpflichtet, das eine poetische „Reise ans Ende der Nacht“ schildert und in einem Freitod kulminiert. Wie in Célines existenzialistischem Roman gleicht es einem „aus der Wirklichkeit entwickelten Gedankengespinst“, in dem für die höllisch-reale Menschenwelt eine adäquat suggestive Bildsprache gefunden wird, um jenseits des Psychologismus und formaler Spielereien in einer visuellen Allegorie zur Zeit- und Gesellschaftsdiagnostik zurückzufinden. Gewiss liegt es am „Beruf“ der Hauptfigur, wenn der Film eine erdrückende Atmosphäre des Verfalls und der Ausweglosigkeit generiert, darin auch die innere Verfassung des Antihelden spiegelt, wären die Süchtigen doch ohne sein Zutun nicht in ihre desolate Lage geraten. Der Dealer bewegt sich durch verschiedene soziale Milieus und wird mit unterschiedlichsten Geschichten konfrontiert, die seine Figur wie ein roter Faden verbindet, wobei der Eindruck eines Alltags entsteht, der nicht zuletzt vom Wertevakuum eines sozial-kulturellen Umbruchs kündet. Ein spirituell überhöhtes Purgatorium, gleichsam das Abbild einer Lebenswirklichkeit. Seine Fahrt von Kunde zu Kunde auf einem weißen Fahrrad nimmt ihren Anfang bezeichnenderweise bei einem Sektenführer, dem Kokain verabreicht werden muss, damit die aus aller Herren Länder zu Tausenden herbeiströmenden Anhänger ihren Guru zu sehen bekommen. Die nächste Station führt den Dealer zu einem Freund im Krankenhaus, der von Kopf bis Fuß in Mullbinden gehüllt ist. Er hat sich im Solarium schwerste Verbrennungen zugezogen und verlangt nach Erlösung durch einen goldenen Schuss, um nicht erleben zu müssen, wie ihm Schweinehaut verpflanzt wird. Im Gegenzug vermacht er dem Dealer sein Fitnessstudio samt Sonnenbank. So beginnt der letzte Tag im Leben des Dealers mit der Tötung eines seiner Kunden. Eine wohl situierte Jugendfreundin richtet ihm dann aus, dass er seine Drogenvorräte nicht länger bei ihr lagern kann; die Schwester eines süchtigen Schiebers lässt ihn verprügeln, und eine Studentin, deren paralysierte Mitbewohnerin zu viele halluzinogene Pilze gegessen hat, fleht um Hilfe. Mit jeder weiteren Etappe verheddert sich der Mann mehr in fremdes, aber auch sein eigenes Elend. Obwohl er den Job nüchtern abwickelt, erfasst ihn Schuldbewusstsein, als ihm eine Ex-Geliebte im Drogenrausch eröffnet, dass er Vater ihrer Tochter ist. Letztlich handelt der Film nicht von Drogenabhängigkeit, sondern von den existenziellen Nöten des Daseins, indem er eine individuelle Tragödie verhandelt. Der Leidensweg führt den Helden auf einen Hügel über der fiktiven Stadt, einer mentalen Nekropolis, wo er der Märchenerzählung eines alten Mannes lauscht, bevor er sich zum Sterben auf die gleißende Sonnenbank im Fitnessstudio des toten Freundes legt und – ähnlich dem Embryo in Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ (fd 15 732) – in die Schwärze entweicht. In ihrer Farbdramaturgie Einsamkeit und Gleichgültigkeit evozierende, graugrün monochrome Bilder, ein Stil langer Einstellungen und mehrminütiger kreisförmiger Kamerabewegungen, der fast völlig auf eine Sinnkonstitution durch Montage verzichtet, eine monoton dröhnende Geräuschkulisse und langsames, meditatives Tempo beschwören wie bei Tarkowskij eine subjektive Zeit. Eine Wirkungsästhetik, die bei der Länge von 163 Minuten durch das ausgedehnte Zeit- und Raum-Empfinden für den Zuschauer das apokalyptische Lebensgefühl des Protagonisten unmittelbar spürbar macht. Zumal die Kälte und die Unbehaustheit der auf HDCam aufgenommenen Bilder durch das 35mm-Breitwandformat noch verstärkt werden. Diese antizipierende Bildsprache entfaltet in ihrer Fremdheit und Stringenz eine beinahe magische Wirkung und zieht den Zuschauer in ihren Bann. Angesichts eines neuen Filmgesetzes, das die ungarische Filmindustrie als einen billigen Dienstleistungssektor für westliche Kinounterhaltung feilbietet, erscheint auch der produktionstechnische Hintergrund aufschlussreich: Fliegaufs kompromisslose Filme entstanden in kleinen Teams als Now- bzw. Low-Budget-Produktionen mit Laiendarstellern und ohne Fördergelder, dafür aber mit tatkräftiger Hilfe von Freunden, sozialen Netzwerken und nach dem Selbstausbeutungsprinzip.
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