Drama | Niederlande 2003 | 100 Minuten

Regie: Alex van Warmerdam

Ein erwachsener Holländer und seine Schwester, die von ihrem Vater im Wald ausgesetzt werden, schlagen sich nach Spanien durch, wo ihr Onkel leben soll. Als die Schwester dort einen Chirurgen heiratet, rebelliert der Bruder gegen die Eheschließung. Grotesk-surreales Drama auf den Spuren Grimmscher Märchen, das um inzestuöse Eifersuchts- und Rivalitätsgefühle kreist. Der formal ambitionierte, vor allem fotografisch brillante Film treibt ein enigmatisches Spiel mit dem Burlesken, das sich jedoch weitgehend in sich selbst erschöpft. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
GRIMM
Produktionsland
Niederlande
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Graniet Film
Regie
Alex van Warmerdam
Buch
Alex van Warmerdam
Kamera
Tom Erisman
Musik
Alex van Warmerdam
Schnitt
Stefan Kamp
Darsteller
Halina Reijn (Marie) · Jacob Derwig (Jacob) · Carmelo Gómez (Diego) · Ulises Dumont (Luis) · Elvira Mínguez (Teresa)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Märchen für Erwachsene“ sind im Grunde ein Widerspruch in sich, weil die in die Jahre gekommene Zuhörer- oder Leserschaft den Glauben ans Wunschprinzip längst verloren hat. Die Geschichten von Schneewittchen und den sieben Zwergen oder dem Fischer und seiner Frau dienen Erwachsenen deshalb meist nur als anspielungsreiche Referenz, ohne dem metaphorischen Gehalt der Erzählungen weiter Gewicht beizumessen. Das ist im Kino nicht viel anders, auch wenn sich neben naiv-fabulierfreudigen Anverwandlungen oder einer generell märchenhaften Attitüde am Rande auch ein intellektuellerer Umgang behauptet hat, der sich gerne dekonstruktivistischer Techniken bedient. Vor allem die Gebrüder Grimm scheinen es den Filmemachern in letzter Zeit angetan zu haben. Neben Christoph Hochhäusler („Milchwald“, fd 36 760) greift auch Axel van Warmerdam auf deren „Kinder- und Hausmärchen“ zurück, und von Terry Gilliams ist für den Spätsommer 2005 eine weitere Verfilmung angekündigt. Zumindest bei letzteren vermag der Rekurs auf die Grimms nur mäßig zu überraschen, bewegten sich deren Filme doch schon immer jenseits eines simplen Realismus. Vor allem van Warmerdams groteskes Universum voller verschrobener Sonderlinge wirkt stets wie eine aus der Zeit gefallene Parallelwelt, deren verzerrte Perspektiven allein durch die erzählerische Lakonie zusammengehalten werden. Die jetzt im Titel avisierte Bezugnahme zeitigt dementsprechend auch keine nennenswerten Veränderungen, weshalb mit wenigen kargen Bildern eine marode, sehr niederländische Kleinfamilie skizziert wird, Vater und Mutter, Bruder und Schwester, wortlose Gestalten nahe dem mimischen Gefrierpunkt. „Ich habe Hunger“, klagt Marie, „es ist nichts da“, bellt der Vater zurück, woraufhin sich die etwa 25-jährige Tochter ins Bett zu ihrem Bruder Jacob trollt. Tags darauf werden beide vom Vater in einem dunklen Wald zurückgelassen. Kälte, Erschöpfung und die einbrechenden Nacht würden das Ende bedeuten, käme ihnen nicht ein Bauer zu Hilfe, der Jacob allerdings mit vorgehaltenem Gewehr zwingt, seiner Frau sexuell zu Diensten zu sein. Am nächsten Morgen gelingt zwar spektakulär die Flucht, doch nun hetzt das Grauen hinter den Geschwistern her, weil der Bauer, seine Frau und eine Kuh auf der Strecke blieben. Mit dieser langen, beklemmend dichten und dunkel verhangenen Exposition scheint die Mär von Hänsel und Gretel schon ans Ende gekommen, denn in einem Brief empfiehlt die Mutter, das Glück bei einem Onkel in Spanien zu versuchen. Das zieht zwar weitere sexuelle Dienstbarkeiten und noch einen Toten nach sich, führt aber wie von Zauberhand tatsächlich auf die lichtdurchflutete Halbinsel, wobei eine simple Straßenunterführung den Übergang markiert: auf der einen Seite die winterlich-düstere Vergangenheit, auf der anderen die sonnig-blaue Verheißung. Diskontinuierliche, mitunter auch alogische Zeitsprünge treiben die Handlung voran, die in gewohnter Manier jede Erwartung unterläuft. Nicht die Nachricht vom Tod des Onkels interessiert beispielsweise, sondern die surreale Verrenkung, in der sich Marie zuvor das passende Outfit verschafft, um für den überraschenden Besuch gerüstet zu sein: auf einer Autobahntoilette erpresst sie mit Waffengewalt die Kleider einer anderen Frau. Eine weitere lakonische Unvermitteltheit später ist Marie Ehefrau eines spanischen Chirurgen, der mit seiner offensichtlich kranken Schwester eine ganz in Rot- und Grüntöne getauchte Villa bewohnt, die ungeachtet ihrer klaren Architektur wie ein Irrgarten wirkt. Buñuel ist nicht weit, weshalb die mehrfach überkreuzten inzestuösen Eifersuchts- und Rivalitätsgefühle langsam, aber stetig auf eine gewaltsame Lösung zumäandern, die Jacob schließlich eine Niere kostet und in einem lang gestreckten Finale in den Kulissen eines verlassenen Western-Dorfs endet, wo beim Shoot-out Pfeil und Bogen den Ausschlag geben. Nach vier „holländischen Filmen“, so van Warmerdam, wollte er seine Charaktere einmal ins Ausland schicken, „und mit ihnen auch mich als Filmemacher“. Das ist ihm stilistisch zweifelsohne gelungen, zumal Kameramann Tom Erisman die statuarische Glut des Südens ebenso brillant in Szene zu setzen weiß wie die vertraute Morbidität der nördlichen Welt, und selbst der Abstecher ins staubige Gefilde des Italo-Westerns zumindest formal recht ansprechend ist. Auch wird man das Ansinnen van Wamerdams, die „Humorlosigkeit“ der Grimmschen Märchen aufgebrochen zu haben, selbst dann würdigen, wenn man mit seinem speziellen Humor nichts anfangen kann. Doch steht zu fürchten, dass sich der Filmemacher auf dieser Reise so wenig verändert hat wie seine grenzdebilen Figuren, die am Ende zwar äußerlich gezeichnet sind und für einige klamme Momente sogar ihrem dunklen Begehren ins Angesicht geschaut haben, nichts desto trotz aber wie Hänsel und Gretel brav und unaufgeklärt nach Hause zurück kehren. Die Ambivalenz von van Wamerdams ort- und zeitloser Modellwelt tritt bei dieser forcierten Grenzüberschreitung schärfer denn je hervor, weil Struktur und Methode seines filmischen Kosmos längst etabliert sind, Fragen nach den Bezugspunkten sich aber um so drängender stellen. Mehr als seine früheren Filme verweist „Grimm“ größtenteils auf sich selbst, auf die pure Lust am und das Spiel mit dem Burlesken und Irrwitzigen, weshalb auch die Konfrontation zwischen unterschiedlichen gesellschaftlich Kodexen schnell im Sande verläuft. Was „Noorderlingen“ (fd 31 717) und „Abel“ (fd 31 845) noch als sinnreiche Narrenspiegel einer sexuell verklemmten Welt interpretieren ließ, erscheint hier zum holistischen Narrenschiff erstarrt.
Kommentar verfassen

Kommentieren