Biopic | USA 2004 | 119 Minuten

Regie: Bill Condon

Biografie des Zoologen und Anthropologen Alfred Kinsey (1894-1956), dessen groß angelegter Report über das männliche und weibliche Sexualverhalten in die Entdeckung eines Universums menschlicher Verschiedenheiten mündete. Der Film vertuscht nicht den explosiven Charakter von Kinseys Forschungsergebnissen, nähert sich seinem Thema aber mit Distanz und vermeidet jede billige Kommerzialisierung. Dass Kinsey selbst, im Gegensatz zu seinem Forschungsobjekt, ein nur wenig faszinierender Mensch war, beeinträchtigt trotz guter Darstellerleistungen die dramatische Ausdruckskraft des Films.
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Filmdaten

Originaltitel
KINSEY
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Qwerty Films/American Zoetrope/Pretty Pic./N1 European Film Prod.
Regie
Bill Condon
Buch
Bill Condon
Kamera
Frederick Elmes
Musik
Carter Burwell
Schnitt
Virginia Katz
Darsteller
Liam Neeson (Alfred Kinsey) · Laura Linney (Clara McMillen) · Chris O'Donnell (Wardell Pomeroy) · Peter Sarsgaard (Clyde Martin) · Timothy Hutton (Paul Gebhard)
Länge
119 Minuten
Kinostart
24.03.2005
Fsk
ab 12; f
Genre
Biopic
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein Feature mit 21 im Film nicht verwendeten Szenen (24 Min.), inklusive eines alternativen Filmendes.

Verleih DVD
Fox (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt., dts dt.)
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Diskussion
Ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der beiden Kinsey-Reports muss sich den Filmemachern vordringlich die Frage gestellt haben, für welche Adressatengruppe sie eigentlich diese Biografie machen wollen. Für die Millionen emanzipierter Zeitgenossen, die in Kinsey heute den exakten Wissenschaftler und unbeirrten Aufklärer sehen, oder für jenen Großteil der amerikanischen Gesellschaft, der trotz aller sexueller Obsessionen nach wie vor von engstirnigem Puritanismus beherrscht wird? In zahllosen amerikanischen Familien ist die Doppelmoral oft religiös verbrämter moralischer Rhetorik und heimlichtuerischen Schlafzimmerverhaltens auch heute noch genauso gegenwärtig wie zu Kinseys Zeiten. Wird der Film deshalb eine ebensolche „Medienexplosion“ auslösen wie einst die Kinsey-Reports selbst? Vor der Premiere hat es für eine Weile so ausgesehen. Konservative Gruppierungen in den Vereinigten Staaten planten bereits landesweite Proteste. Eine von ihnen ging sogar so weit, Kinsey mit Josef Mengele zu vergleichen. Doch sobald sich zeigte, dass der Film weniger Resonanz beim Kinopublikum findet, als seinem Sujet nach zu vermuten war, wurde es im Kreis der Opponenten wieder still. Nun ist Bill Condon aber kein Regisseur, der zur Sensationalisierung neigt. Schon mit „Gods and Monsters“(fd 34 278), der weitgehend fiktiven Biografie des homosexuellen „Frankenstein“-Regisseurs James Whale, hat er bewiesen, dass er ein kontroverses Thema mit großer Einfühlsamkeit und Delikatesse zu behandeln vermag. Ähnlich bedacht nähert er sich jetzt auch dem „sexuellen Revolutionär“ Alfred Kinsey. Er lässt nichts herunterspielen, vertuscht weder den explosiven Charakter von Kinseys Forschungsobjekt noch scheut er davor zurück, die Dinge beim Namen zu nennen. Aber er respektiert die Grenze zwischen ehrlicher Reportage und leichtfertiger Kommerzialisierung des Themas. Wo immer Kinseys Erkenntnisse provokativer Natur sind (und sie waren es für die damalige Zeit fast überall), stellt Condon sie auch als solche dar. Doch er ist stets darum bemüht, dass sein Film davon nicht überwältigt wird. Er besitzt sogar genügend Humor, um Grenzsituationen von Peinlichkeit und sexuelle Darstellungen von Spekulation fernzuhalten. Wie schon in „Gods and Monsters“ gelingt es ihm auch diesmal wieder, hinter der sexuellen Thematik den Menschen zu entdecken und mit liebevoller Sorgfalt in den Mittelpunkt zu rücken. Letztlich überlässt er es den Zuschauern, ob sie am Ende des Films in Kinsey den Verführer zu Freizügigkeit und „Perversion“ oder den Befreier von Ignoranz und Hypokrisis sehen wollen. Die Crux des Films ist eine ganz andere: Der Mann, der sich einem der tabuisiertesten Sujets der Menschheitsgeschichte verschrieben hatte, der 18.000 Individuen nach den intimsten Details ihres Geschlechtslebens befragte und zum ersten Mal das Verhalten amerikanischer Männer und Frauen aus dem Dämmerlicht der Schlafzimmer in die grelle Öffentlichkeit geholt hatte, war seinem Wesen nach alles andere als ein Revolutionär. Es bleibt sogar bis zum heutigen Tag fraglich, ob sich Kinsey überhaupt als Weltverbesserer fühlte, oder ob er nicht Zeit seines Lebens ein erbsenzählender Wissenschaftler geblieben ist. Wie er sich in jungen Jahren mit Wespen beschäftigt, deren Arten und Verhaltensunterschiede gesammelt und katalogisiert hat, so widmete er sich später dem Menschen und dessen Sexualleben. Wäre das Objekt seiner Forschung nicht so brisant gewesen, hätte Alfred Kinsey wohl kaum jemanden in seiner Umgebung aus der Fassung bringen können: Ein großes Handikap für jeden Film, der ohne „Helden“ eben nicht auskommen kann. Das Einzige, was Bill Condon für den Menschen Kinsey tun konnte, war, ihn wenigstens sympathisch zu machen. Aber das erweist sich nicht als ausreichend für eine Figur, die nahezu in jeder Szene und in jeder Minute des Films auf der Leinwand zu sehen ist. Wir haben es deshalb notgedrungen mit der Biografie eines Mannes zu tun, die akademischer ausgefallen ist, als es auf die Länge von zwei Stunden gut tut. Zwar erfahren wir von Kinseys Ehe, von seinem kollegialen und persönlichen Verhältnis zu einem seiner jüngeren Mitarbeiter, sogar von der gebrochenen Beziehung zu seinem autoritären Vater – aber alles das bleibt von seltsam peripherem Interesse, weil der Mensch, an dem sich unsere Neugier entzünden soll, ein solcher Langweiler ist. Daran können auch Liam Neeson und Laura Linney wenig ändern, denn die Handlung gibt ihnen nur selten Gelegenheit, das Innere ihrer Charaktere nach außen zu kehren. Die wenigen Male allerdings, in denen das passiert, lassen sie nicht ungenutzt vorüber gehen. Beide sind großartige Schauspieler, und sie machen aus diesen Augenblicken das Beste, was die magere Lebensgeschichte herzugeben vermag. Was kann ein Drehbuchautor und Regisseur tun, wenn er sich der Biografie eines „geradezu monoton normalen menschlichen Wesens“ annimmt (wie das „Time Magazin“ Kinsey einmal apostrophierte)? Er versucht, die Wissenschaft spannender zu machen als den Menschen. Dass Condon damit Erfolg hat, stellt man als Zuschauer bereits fest, wenn sich spontane Hochachtung vor Kinseys Bienenfleiß bei der Erforschung von vier Millionen Wespen einstellt. Fast bedürfte es gar nicht mehr der revolutionären Erkenntnisse menschlichen Sexualverhaltens, die einst die Zeitgenossen so erregten: dass zum Beispiel die Hälfte aller verheirateten Frauen vorehelichen Sex hatte, oder 37 Prozent der Männer mindestens eine homosexuelle Beziehung. Condon bringt Kinseys wissenschaftliche Arbeit auf den entscheidenden Punkt: Kinsey, der dokumentieren wollte, was „normal“ ist, entdeckte ein Universum der Verschiedenheiten. Blickt man zum Schluss noch einmal auf den Film zurück, so ist es die Wichtigkeit von Individualität, die sich als Kerngedanke der gesamten Struktur des Films entpuppt. Darin summiert sich die Moral von Kinseys Werk und die Moral des Films.
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