Drama | Frankreich 2003 | 124 Minuten

Regie: Abdellatif Kechiche

Ein Junge in einer tristen Pariser Vorstadt verschafft sich die Hauptrolle in einem Stück von Marivaux, weil er sich in eine Darstellerin verliebt hat, scheitert aber und bringt mit seinem Begehren das soziale Gefüge der Gruppe durcheinander. Mit großartigen Laiendarstellern inszeniert, stellt der Film trotz seines realistischen Stils das Elend der Banlieus nicht aus, sondern setzt den Akzent auf die Liebesgeschichte, die sich mit der im Theaterstück zunehmend überschneidet, sowie auf die sprachlichen Kodices auf beiden Darstellungsebenen. Ein spannendes Experiment, in dem Liebe und Kunst das Denken und Fühlen der Figuren inmitten harter Lebensbedingungen transzendieren. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
L' ESQUIVE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Noé Prod./Lola Films
Regie
Abdellatif Kechiche
Buch
Abdellatif Kechiche · Ghalia Lacroix
Kamera
Lubomir Bakschew
Schnitt
Ghalia Lacroix
Darsteller
Osman Elkharraz (Krimo) · Sara Forestier (Lydia) · Sabrina Ouazani (Frida) · Nanou Benahmou (Nanou) · Hafet Ben-Ahmed (Fathi)
Länge
124 Minuten
Kinostart
10.03.2005
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Eben noch keifen sie sich aufs Schärfste an, weil sie sich gegenseitig zurückgesetzt fühlen; doch im nächsten Moment spielen die Freundinnen Lydia und Frida eine kokette Liebesszene aus Marivaux’ gleichnishaftem Stück „Das Spiel von Liebe und Zufall“ – unter freiem Himmel, bei niedrigen Temperaturen und vor dem Hintergrund trister Mietskasernen in einer Pariser Vorstadt. So wie das ordinäre Vokabular ihres Streits fast übergangslos der Sprache der frühen Aufklärung weicht, wird die Tristesse mit einem Mal überwunden vom hingebungsvollen Spiel der jugendlichen Nach­wuchsschauspieler, die das Stück für eine Schulaufführung proben. Kein Sozialdrama im üblichen Sinne, kein anklagendes Cinéma Beur, wie das Kino der maghrebinischen Einwanderer in Frankreich genannt wird, sondern eine Liebesgeschichte im Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion, zwischen Rollenspielen in der Wirklichkeit und einer wahrheitsträch­tigen Dichtung, hat Abdellatif Kechiche mit seinem zweiten Spielfilm gedreht. Die Kamera bewegt sich immer sehr nah an den Hauptfiguren, die fast alle von wunderbar agierenden Laien dargestellt werden. Der Lebensraum bleibt trotzdem sichtbar, er lässt sich kaum ausblenden. Das Wissen um die äußerst schwierigen Bedingungen in den Banlieus wird allerdings vorausgesetzt, ohne dass ständig mit dem dem Finger darauf gezeigt würde. Statt auf drastische Bilder setzt Kechiche auf drastische Sprache und Sprachveränderung. Der Umgangston der Jugendlichen ist gespickt mit Begriffen aus der HipHop-Kultur und mit Derbheiten, wobei die Grenze zur Beleidigung immer sehr genau gezogen, dem Sprachcode also ein hoher Wert beige­messen wird. Marivaux’ Sprache ist nicht minder kodifiziert, wirkt aber wie eine temporäre Befreiung aus den üblichen Sprachmustern und wird von den Hauptfiguren entsprechend zelebriert. Nur einem gelingt das nicht: Krimo, einem zwar respektierten, aber sehr stillen Jungen, der sich unsterblich in Lydia verliebt hat, die eigentlich eine alte Freundin ist. So wenig wie er sich an den sprachlichen Ausschweifungen seiner Kumpel beteiligt, so wenig gelingt ihm der Sprung zu Marivaux, als er die Hauptrolle neben Lydia übernimmt, um ihr nahe zu sein. Sein Medium ist nicht die Sprache, und er ist der Kongruenz zwischen seinen tatsächlichen Gefühlen und denen, die er auf der Bühne spielen soll, nicht gewachsen. Er will lediglich ein Ja oder Nein von Lydia auf seine Frage, ob sie mit ihm gehen will. Dass er damit das Gefüge der Jungen- wie der Mäd­chen­gruppe durcheinander bringt, ist ihm nicht bewusst: Lydia wird von Krimos Ex-Freundin als Schlampe bezeichnet, und Krimos Kumpel zwingt Lydia samt ihren Freundinnen mit Gewalt, endlich eine Antwort zu geben. Dieser Einbruch von Wirklichkeit überfordert sowohl Lydia als auch Krimo, da sie sich, wie alle Liebenden, längst auf einer anderen Realitätsebene befinden. So hält die Poesie Einzug in der Banlieu, und Kechiche findet dafür einige sehr eindrucksvolle Szenen. Sein erster Film hieß „Voltaire ist schuld“ (fd 35 443) und behandelte das Schicksal eines sensiblen tunesischen Einwanderers, dessen Träume von einem besseren Leben in Paris scheiterten, dem aber die beiden Liebesge­schichten, die er erlebt, weit mehr zusetzen und dennoch zugleich Halt geben. Kechiche drehte in seinem Debütfilm zwar mit Profis, darunter Elodie Bouchez, schlug aber damals stilistisch schon den Weg eines unverfälsch­ten, harten Realismus ein, der Armut und Elend nicht ausstellt, sondern gegenüber den Empfindungen seiner Figuren in den Hintergrund rückt. Hier nun – „esquive“ heißt umgangssprachlich so viel wie sich vor etwas drücken – verschafft er einen Einblick in das harte Leben in den armen Vorstädten, und das konsequent aus der Sicht von Jugendlichen, deren größte Sorge eben nicht der Broterwerb ist, sondern, wie bei allen Pubertierenden, Respekt in der Gruppe und die erste große Liebe. Dazu kommt das „Spiel im Spiel“, die Kunst, die das Denken seiner Figuren transzendiert und die am Ende ein solches Strahlen auf (fast) alle Gesichter zaubert, wie es vorher nie zu sehen war.
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