La Coquille et le Clergyman / L' Invitation au Voyage

- | Frankreich 1927/28 | 40/40 Minuten

Regie: Germaine Dulac

Zwei stumme Kurzspielfilme, die bereits 1927/28 Elemente und Sujets des surrealen Kinos vorwegnahmen: In "La Coquille et le Clergyman" verzehrt sich ein Geistlicher vor Liebe zu einer unnahbaren Schönen; in "L’invitation au voyage" sucht eine verheiratete Frau ein anrüchiges Etablissement auf, um ihre geheimen Wünsche zu stillen. Während der erste Film das Seelenleben des Protagonisten durch ein Feuerwerk an visuellen Tricks vor Augen führt, erzählt der zweite seine Geschichte mit herkömmlicheren Mitteln, besticht indes durch die virtuose Montage. Beide Werke der Filmpionierin Germaine Dulac wurden mit neuer, den Geschichten höchst adäquater Filmmusik versehen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN | L' INVITATION AU VOYAGE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1927/28
Produktionsfirma
Les Films D.H.
Regie
Germaine Dulac · Marie-Anne Malleville
Buch
Antonin Artaud · Irene Hillel Erlanger · Germaine Dulac
Kamera
Paul Guichard · Lucien Bellavoine
Musik
Iris ter Schiphorst · Catherine Milliken
Darsteller
Alexandre Allin (Kleriker) · Lucien Bataille (Offizier) · Genica Athanasiou (Frau) · Raymond Dubreuil · Emma Gynt
Länge
40
40 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Die Zeit zwischen den Weltkriegen gehört zu den abenteuerlichsten Jahren des Kinos. Das Medium war jung, die Avantgarde der Bildenden Kunst betrachtete es als willkommene Spielwiese, das Publikum bekam in Privatzirkeln, aber auch in öffentlichen Lichtspielhäusern Radikales und Skandalöses zu sehen. Gerade hatte man sich an die naturalistischen Abbilder auf Zelluloid gewöhnt, da traten Künstler an, um die ersten verinnerlichten Sehgewohnheiten gründlich zu dekonstruieren. Als der Expressionismus à la Wegener, Murnau und Lang in den 1920er-Jahren massenkompatibles Stilmittel war, traten Künstler wie René Clair, Fernand Léger und selbst Agitpropagandisten wie Joris Ivens mit Kurzfilmen an die Öffentlichkeit und sorgten häufig genug für Aufregung. In diesem filmischen Universum zwischen Expression und Dada gebührt Charlotte Elisabeth Germaine Saisset-Schneider ein bedeutender Platz. Gehört sie, die sich in Künstlerkreisen Germaine Dulac nannte, doch zu den ersten, die dem Film eine surreale Färbung gaben. Zwei Jahre vor „Ein andalusischer Hund“ schuf sie in Paris ein verstörendes, „unerhörtes“ Werk, das die Barriere zwischen Gegenständlichem und Absurden formal wie inhaltlich durchbrach. „La Coquille et le Clergyman“ („Die Muschel und der Geistliche“) ist ein psychoanalytischer Albtraum über sexuelle Frustrationen und Begehrlichkeiten. Schon in der ersten Sequenz verwandelt Dulac durch extreme Zeitlupe das unspektakuläre Entree eines der drei Hauptpersonen in ein Horrorszenario, bei dem die gänzlich aufgelöste Realität einer Visualisierung emotionaler Befindlichkeiten weicht. Hier kauern Menschen an Decken, teilen sich Köpfe an der Längsachse, treten Begehrlichkeiten wie Geister aus Personen hinaus, lösen sich Gemäuer aus ihren Grundfesten. Jede Szene strotzt nur so vor visuellen Kabinettstückchen wie Doppelbelichtungen, Überblendungen, Verzerrungen und extremen Schärfe/Unschärfe-Gegensätzen. Dulac versuchte auf diese Weise, das aufgewühlte Seelenleben eines Geistlichen auf die Leinwand zu bannen, der sich nach der Liebe einer unnahbaren Schönen eingedenk eines konkurrierenden Nebenbuhlers verzehrt. Ein Stück weit herkömmlicher erzählt, inhaltlich indes nicht minder kontrovers, folgt „L’invitation au voyage“ („Einladung zu einer Reise“) den geheimen Wünschen einer verheirateten Frau nach erotischer Abwechslung in ein anrüchiges Vergnügungsetablissement, das sowohl dem Film als auch dem psychologischen Überbau den bedeutungsschwangeren Titel gibt. Die scheue und doch abenteuerwillige Frau findet die Aufmerksamkeit eines schönen Schiffskapitäns, wird aber verschmäht, als er nach anfänglicher Zuneigung entdeckt, dass sie gebunden ist. Die im Vergleich zu „La Coquille et le Clergyman“ unspektakuläre, aber nicht minder virtuose Montage steht hier ganz im Dienst der Protagonisten und wird nur selten durch Exkursionen in ihren Visionen unterbrochen. Die Avantgardisten der 1920er-Jahre versuchten häufig, ihre visuellen Vorstellungen durch Musik zu potenzieren. Neben der Zusammenarbeit zwischen René Clair und Eric Satie ist vor allem Fernand Légers und George Antheils „Ballet mécanique“ dafür ein eindrückliches Beispiel. Auch Dulac, die über die „schönen Begleitmusiken“ zum Kino fand (vgl. fd 22/02), muss eine starke Affinität zur Tonebene unterstellt werden. Leider sind keine Partituren oder Musikfragmente zu beiden Kurzfilmen erhalten geblieben, folglich ist der musikalische Ansatz einer des 21. Jahrhunderts. Doch zum Glück wurde die klassische Kammermusik-Instrumentation nicht zugunsten der heute für Stummfilme gerne verwendeten Synthesizer-Improvisationen verworfen. Die vielen Tanzsequenzen und der konventionelle narrative Aufbau von „L’invitation au voyage“ hätten einen der Handlungsebene folgenden Musikkontext durchaus vertragen und aus dem Werk einen betont melodramatischen, eingängigen Kurzfilm gemacht. Zwar bedient sich die Ensemble Modern-Oboistin Catherine Milliken in ihrem 2002 komponierten Score melodiöser Fragmente, die zumindest indirekt der musikalischen Stimmung in den Szenen Rechnung tragen; dennoch verzichtet sie auf plakative Dopplungen und findet in ihren Variationen für Klarinette, Flügelhorn, tiefe Streicher, Schlagzeug und Klavier die musikalische Übersetzung der aufgewühlten Gefühlswelt der Protagonistin. Gerade die Klarinette dient dabei als höchst wirkungsvoller Seismograf für das, was der Zuschauer in den Blicken der Akteure erahnt. Den formgemäßen Schritt weiter geht Iris ter Schiphorst in ihrer Partitur für zwölf Instrumente, die sie für die Uraufführung der restaurierten Fassung von „La Coquille et le Clergyman“ in Amsterdam 2005 erstellte. Auf die Atonalität der Neuen Musik der späten 1920er-Jahre eines Schönberg, aber auch Varèse rekurrierend, tobt sich die in Hamburg geborene Komponistin in dem assoziativen Bilderreigen Dulacs aus. Die Musik löst sich analog zur visuellen Ebene immer wieder in abenteuerliche Toncluster auf, um gelegentlich doch in einer verstohlenen Harmonie zu enden. Schiphorst vermeidet jegliche unangemessenen Dominanzen, die Dulacs Film allzu sehr in den Hintergrund gedrängt oder interpretatorisch festgelegt hätte. Die beiden von arte in Auftrag gegebenen Filmmusiken sind somit hervorragende Beispiele dafür, Stummfilmschätze musikalisch neu einzukleiden, ohne sie zu kostümieren.
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