Stadt als Beute

- | Deutschland 2005 | 96 Minuten

Regie: Irene von Alberti

Drei junge Schauspieler, zwei Männer und eine Frau, proben mit dem Theaterregisseur René Pollesch in Berlin dessen Stück "Stadt als Beute", wobei der kompliziert-komplexe, mühsam erarbeitete Text unterschwellig in ihren Alltag hineinwirkt. Der intensiv gespielte, klug inszenierte Low-Budget-Film macht das theoretische Bühnenkonzept durch kleine episodische Geschichten sinnlich erfahrbar und wird auf spannende Weise dem doppelgesichtigen Thema gerecht: Während die Großstadt ihre Bewohner "aussaugt", schöpfen diese Kraft und Imaginationen aus ihr, um ihre Befindlichkeit und Kreativität auszudrücken. (Titel der Episoden: 1. "Marlon"; 2. "Lizzy"; 3. "Ohboy".) - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Filmgalerie 451/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)/Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie
Irene von Alberti · Miriam Dehne · Esther Gronenborn
Buch
Irene von Alberti · Miriam Dehne · Esther Gronenborn
Kamera
Dirk Heuer · Felix Leiberg · Patrick Waldmann
Musik
Don Philippe
Schnitt
Robert Kummer · Daniela Kinateder
Darsteller
René Pollesch (René) · Elisabeth Rolli (Ricarda) · Tatiani Katrantzi (Regieassistentin) · Tina Pfurr (Souffleuse) · Richard Kropf (Marlon)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Filmgalerie 451 (1:1.85/16:9/Dolby Digital 5.1)
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Diskussion
Dies ist keine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des umstrittenen, gleichwohl hoch prämiierten Autors und Regisseurs René Pollesch – was wohl auch kaum möglich wäre, funktioniert die geballte Sammlung von furiosen Sentenzen, die im September 2001 erstmals in der Prater Wohnbühne der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz aufgeführt wurde, doch primär als „Rezitationsgewitter“ ohne sonderliche narrative Erdung, wie sie das Kino (meistens) braucht. Dass es Pollesch mit „Stadt als Beute“ fertig brachte, die Komplexe „postfordistische Subjektivität und Arbeitsverhältnisse“ sowie „die Umstrukturierung der Städte durch Privatisierung und Ausgrenzung“ unter Verwendung Foucaultscher Begriffe vom soziologischen Schreibtisch aus auf die dramatische Bühne zu bringen, wie es in einer Rezension so schön plastisch formuliert wurde, könnte von einer konkreten filmischen Adaption zusätzlich abschrecken. Irene von Alberti bringt jedoch ihr Interesse an Pollesch und seiner Auseinandersetzung mit der modernen Lebens- und Arbeitswelt nachvollziehbar und sehr anregend auf den Punkt: Die Sätze sind für sie keine Dialoge, sondern Diskurse, bei denen alles gleichzeitig stattfindet und damit quasi alles möglich, denkbar und assoziierbar wird – eine höchst schöpferische intellektuelle „Spielwiese“ also, auf er man grast und pflückt, um eigene Schwingungen und Gedanken auszuloten und sie auch filmisch zu erschließen. Urbane und menschliche Standortbestimmungen bedingen einander dabei; genauso, wie die kalte Technologie der Großstadt die Einsamkeit und Verzweiflung der Menschen befördert, hält der Mensch seinerseits dagegen, verweigert sich intuitiv der Fremdbestimmung auf vielerlei Art und Weise, will nicht Beute der Stadt sein, sondern sie sich nutzbar machen, sich ihrer bedienen, sie „erbeuten“. Es ist eine bezwingende Idee, sich Polleschs theoretischem Konzept durch kleine filmische Geschichten quasi von außen zu nähern, um es „sinnlich“ erfahrbar zu machen: Drei junge Menschen stehen im Zentrum einer Bühnenprobe unter der Regie von Pollesch, stehen mal ratlos, mal amüsiert, dann aggressiv und unwirsch dem Text (und den Mitspielern) gegenüber, bemühen sich um Deutung, Intonation und Interpretation und werden dabei, mehr oder weniger hilfreich, vom Regisseur „gecoacht“. Der ist manchmal weniger Impresario als eher ein verkappter Therapeut, der nicht nur fordert, sich in die Texte einzudenken und einzufühlen, sondern beharrlich erläutert, warum es gerade die ausgewählten jungen Schauspieler sind, die sein „Material“ durchformen: Sie leben in der Großstadt, sind Teil davon, Suchende und Ratlose, Neugierige und Verunsicherte, Lebens(un)tüchtige, (Über-)Lebenskünstler, auch Selbst-Darsteller. Nicht minder faszinierend ist, dass sich den drei zentralen Figuren drei unterschiedliche Regisseurinnen angenommen haben, um sie aus der Probensituation hinaus „ins Leben“ zu begleiten. Dabei passiert etwas sehr Spannendes: Polleschs abstrakte Textphrasen schwingen nach und halten der Alltagsprüfung stand. Assoziationen vernetzen sich, ähnlich wie sich gelegentlich die Wege der drei kreuzen, sich verwandte Situationen ergeben und zum vitalen, authentischen Diskurs über Stadt und Beruf, Einsamkeit und Freundschaft, Sehnsucht und Leidenschaft, Angst und Isolation verflechten. Da ist zunächst Marlon. Er ist neu in der Stadt, unsicher und linkisch. Polleschs Text macht ihn ratlos und aggressiv. Er schleppt ihn wie einen Ballast mit in seinen Alltag: in seine provisorische Unterkunft in einer Wohngemeinschaft, wo er die Verantwortung aufgezwungen bekommt, auf ein einsames Kind aufzupassen, und einem Rivalen um die Theaterrolle begegnet. Marlon gerät auf eine nächtliche Odyssee und bekommt wortwörtlich eins auf die Nase, bevor er wieder zur Probe erscheint – blutend, verletzt, womöglich um einige vage Erfahrungen „reicher“. Lizzy ist weit selbstbewusster und „stadttauglicher“. Für eine Filmpremiere, die sich an die Probe anschließt, stiehlt sie einen Designer-Mantel und landet in einer Nachtbar, die lediglich von einer naiven Blondine an der Tanzstange sowie dem jungen Geschäftsführer besetzt ist. Die wenigen räumlichen wie thematischen Vorgaben werden zum mitreißenden Parforce-Ritt für eine faszinierende Inga Busch, die sich in der seltsam tranceartigen Episode, aber auch den kurzen Probeszenen mit Pollesch regelrecht „auslebt“, lacht und schreit, gurrt und tanzt – erotisch und zugleich souverän verfremdend. Gleichwohl gibt „ihre“ Lizzy sich nicht preis, schlüpft am Ende in eine andere Identität, die sie dem Geschäftsführer „gestohlen“ hat, der sie womöglich seinerseits erfunden hat. Ohboy schließlich stammt aus einem gänzlich anderen sozialen Milieu. Er lebt vom Sozialamt und vor allem von vielen Illusionen, die signalisieren sollen, dass er doch eigentlich „alles im Griff“ hat. Er hat nicht nur intellektuell Angst vor den komplizierten Pollesch-Texten, drückt sich vor der Probe, treibt durch Berlin und schimpft aufs Sony-Gebäude – gleichwohl mit Polleschs Worten, die also nicht sang- und klanglos an ihm abprallen. Am Ende kommen die drei wieder im Theater zusammen, wo sich ihre individuellen Erfahrungen „entladen“, bevor der Premierenabend naht. „Stadt als Beute“ ist ein faszinierender, höchst anregender Low-Low-Budget-Film, der souverän mit seinen (monetär begrenzten) Mitteln und Möglichkeiten operiert und dabei wie aus einem Guss wirkt – trotz dreier unterschiedlicher Regisseurinnen, die einen sehr kreativen Weg gefunden haben, ihre Kräfte zu bündeln und auf diversen Ebenen spielerisch zu verknüpfen, wobei kaum der Eindruck des Episodischen entsteht. Flott und erstaunlich leicht ist bereits der Einstieg, der jede „Angst“ vor der Komplexität des Theatersujets nimmt und geschickt dessen Emotionalität erschließt. Dabei wäre der Film durchaus auch politisch zu deuten, wobei er kein agitierendes Thesenpapier ist, sondern eine höchst rhythmische, subtile und sogar humorvolle Städtetour, die zwischen dem Konkreten und Greifbaren hindurchhorcht, um Stimmungen und Befindlichkeiten einzufangen.
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