Rois et Reine

Drama | Frankreich 2004 | 150 Minuten

Regie: Arnaud Desplechin

Eine Frau Mitte 30 steht vor der dritten Ehe und bittet einen früheren Geliebten, ihren aus einer anderen Verbindung stammenden Sohn zu adoptieren. Ausgehend von dieser Grundkonstellation, entwickelt sich der Film in zwei großen Erzählsträngen um diese beiden Figuren, die von einer emotionalen Katastrophe in die nächste stolpern, dabei aber reifen und eine Lösung für ihr kompliziertes Leben finden, was in der verschachtelten Struktur des Films eine reizvolle formale Entsprechung findet. Grandiose Darsteller und eine souveräne Inszenierung zwischen Krimi und klassischer Tragödie machen aus der Suche nach den eigenen Eitelkeiten, Verletzlichkeiten und Gefühlen eine spannende Beziehungsstudie. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
ROIS ET REINE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Why Not/France 2 Cinéma/Rhône-Alpes Cinéma
Regie
Arnaud Desplechin
Buch
Arnaud Desplechin · Roger Bohbot
Kamera
Eric Gautier
Musik
Grégoire Hetzel
Schnitt
Laurence Briaud
Darsteller
Emmanuelle Devos (Nora Cotterelle) · Mathieu Amalric (Ismaël Vuillard) · Catherine Deneuve (Mme Vasset) · Maurice Garrel (Louis Jenssens) · Nathalie Boutefeu (Chloé Jenssens)
Länge
150 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Der Trick besteht darin, wie bei einem Krimi erst nach und nach die Beziehungen zwischen den Hauptpersonen ans Licht zu bringen. So bleibt die Spannung erhalten, selbst bei einem zweieinhalbstündigen, recht kompliziert verschachtelten Film. Er beginnt mit der „Königin“, mit Nora, einer Galeristin Mitte 30, die einen elfjährigen Sohn namens Elias hat. Nora ist zweimal geschieden und steht kurz davor, wieder zu heiraten, diesmal einen reichen Mann, den sie eher nicht liebt. Durch die simple Tatsache, dass Noras Vater Louis, ein Schriftsteller, plötzlich Schmerzen bekommt, als sie ihn besucht und ins Krankenhaus eingeliefert werden muss, gerät die Welt aus den Fugen. Louis gesteht, dass er Krebs hat und in den nächsten Tagen sterben wird. Nora glaubte, ihren Vater zu kennen, ist erschrocken und muss umplanen; eigentlich wollte sie Elias bei ihm lassen. Nun beginnt die zweite Geschichte: Der Film wechselt zu Ismael, einem Musiker, ihrem letzten Geliebten, mit dem sich Elias gut verstanden hat. Ohne dass sich Ismael erinnern kann, wie es dazu kam, findet er sich in einer psychiatrischen Klinik wieder und setzt alles daran, mit Hilfe seines drogensüchtigen Anwalts wieder herauszukommen. Der rät Ismael, lieber drin zu bleiben, allein schon wegen seiner hohen Steuerschulden. Kurz bevor Ismael die Klinik verlassen kann, verliebt er sich in Arielle, eine junge Frau, die stolz auf ihren Selbstmordversuch ist. Inzwischen hat Nora entschieden, beim kranken Vater zu bleiben und Elias bei ihrem Verlobten zu lassen. Sie nimmt Kontakt zu ihrer Schwester Chloe auf, einer Hippie-Frau, die ebenfalls nichts von der Krankheit des Vaters wusste. Was die beiden über ihren Vater denken, erfährt man nicht; denn die Menschen reden nicht über das, was sie fühlen. Aber sein naher Tod weckt in Nora den Wunsch, für Elias den bestmöglichen Vater zu finden. Sein leiblicher Vater starb vor der Geburt, und richtig gut verstand sich Elias nur mit Ismael. Nora findet heraus, wo er lebt und bittet ihn, Elias zu adoptieren. Dazu kann sich Ismael bei aller Liebe zu dem Jungen nicht entscheiden, zudem er ganz andere Probleme hat. Wieder in Freiheit, nachdem ihm eine Ärztin bescheinigte, nicht verrückt zu sein, muss er erfahren, dass ihn kein Familienangehöriger, sondern ein Musiker aus seinem Ensemble in die Psychiatrie gebracht hat – und das Ensemble ihn nicht wieder aufnehmen will. Ismael steht vor dem Nichts, finanziell und emotional. Auch Nora fällt in ein tiefes emotionales Loch, als sie nach dem Tod des Vaters in seinem letzten Manuskript liest, dass er in ihr ein egoistisches Monster sah und sie nie liebte. Ähnliches widerfährt Ismael, als er erkennt, dass seine Eltern seinen Adoptivbruder in ihr Testament aufnehmen wollen. Wider Erwarten schaffen es Nora und Ismael, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Ismael findet eine neue Gruppe von Musikern und gesteht Arielle seine Liebe. Nora heiratet wie geplant und verbrennt das Manuskript ihres Vaters. In der letzten und stärksten Szene des Films erklärt Ismael Elias voller Zärtlichkeit und Verständnis, warum er ihn nicht adoptieren will: Quasi ein Gespräch von Mann zu Mann, das einzige ehrliche im Film, der nun in gewisser Weise doch ein Happy End hat. Im Grunde hat Arnaud Desplechin einen Horrorfilm gedreht. Anfangs ist der Alltag noch im Lot, dann passiert das Unerwartete, und in dem Versuch, sich zu retten, erleben die Menschen eine Katastrophe nach der anderen. Dass sie sich am Ende aus ihrer ausweglosen Lage befreien können, wirkt wie die Katharsis in einer klassischen Tragödie. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Filmen lässt Desplechin seine Charaktere diesmal wirklich reifen. Auch drehte er keine bedeutungsschwere Tragödie, sondern einen in jeder Phase mitreißend leichten, vorwärts treibenden und spannenden Film. Durch die parallelen Geschichten, die Rückblenden, den gelegentlichen Off-Kommentar und die wohl dosierten, geschickt eingestreuten Rätsel in den Beziehungen, die sich immer erst später klären, verlangt er vom Zuschauer eine gewisse Mitarbeit ab. Ungewöhnlich ist, dass die beiden Hauptfiguren nur zweimal aufeinander treffen. Die anfangs selbstsichere Frau ist nicht minder egoistisch als der lässige Musiker; dass die Beziehung auf Dauer nicht gut ging, überrascht daher wenig. Immer wieder geht es um die Frage der Schuld, um Eitelkeiten, Verletzlichkeiten und Beziehungen – und um die Tatsache, dass man eine nahe stehende Person wohl nie so genau kennt, wie man das glaubt. Diese Zerrissenheit drückt auch die etwas komplizierte formale und erzählerische Struktur aus. Zusammen mit den unaufgeregten Bildern, Gesten und Dialogen und Dank der wunderbaren Hauptdarsteller ergibt sich daraus eine faszinierende zeitlose Beziehungsstudie.
Kommentar verfassen

Kommentieren