Durch diese Nacht sehe ich keinen einzigen Stern

- | Deutschland 2004 | 112 Minuten

Regie: Dagmar Knöpfel

Drei Briefentwürfe, die die tschechische Dichterin Bozena Nemcová am 21. November 1861 an ihren Verleger schrieb, bilden des Handlungsgerüst des Films, der das Leben einer emanzipierten Frau entfaltet, aber auch ihren Sturz ins Bodenlose beschreibt. Minimalistisch und in expressiver Manier inszeniert, liefert er keine Nahaufnahmen seiner Protagonisten, sondern erschließt ihr Wesen durch eine Voice-Over-Erzählung und Detailaufnahmen von alltäglichen Utensilien. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Avista Film/BR/arte/Daniel Zuta Filmprod.
Regie
Dagmar Knöpfel
Buch
Dagmar Knöpfel
Kamera
Jan Malír
Musik
Ales Brezina
Schnitt
Christian Lonk
Darsteller
Corinna Harfouch (Bozena Nemcová) · Boleslav Polívka (Josef Nemec) · Petr Forman (Danek) · Ondrej Vetchý (Dr. Lambl) · Anna Polívková (Dora Necová)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Das Letzte, was Bozena Nemcová schrieb, waren drei Briefentwürfe an ihren Verleger. Das war am 21. November 1861. Zwei Monate später erlag sie mit 46 Jahren ihrem Unterleibsleiden. Nemcová war und ist die berühmteste Autorin der tschechischen Literatur, ihre „Babicka“ kennt in ihrer Heimat jedes Schulkind. Gebildet an den Autoren der deutschen und französischen Klassik, begeisterte sie sich für die tschechische Sache und die 1848er-Revolution. Mit 24 lernte sie Tschechisch und schrieb in dieser Sprache so formvollendet, dass noch Kafka von ihrer „Sprachmusik“ schwärmte. In den Salons war sie eine umschwärmte Schönheit; ihre Affären überforderten die Begrifflichkeit ihres Mannes. Die Ehe wurde zur Hölle. Ihre letzten Jahre waren von bitterer Armut, gewalttätigem Streit mit ihrem Mann und einer unheilbaren Krankheit gezeichnet. Dagmar Knöpfel orientiert sich an den drei Briefentwürfen, die jedes Mal ihren Adressaten aus dem Auge verlieren, deren Sätze immer wirrer werden und immer wieder bei der eigenen Ausweglosigkeit landen. Es ist ihr dritter Frauenfilm; der erste, „Brigitta“ (fd 31 250), erzählte von einer literarischen Figur, der zweite, „Requiem für eine romantische Frau“ (fd 33 574), von einer lesenden Frau, der dritte handelt nun von einer schreibenden Frau. Alle Frauen stehen unter der Prägung des 19. Jahrhunderts. Die schreibende Nemcová ist die emanzipierteste, ihre Fallhöhe schrecklich. „Babicka“, ihr Hauptwerk, ist auch Eskapismus. Knöpfel lässt Corinna Harfouch in der Rolle der Nemcová den Anfang des Romans vorlesen, von der Länge der Zeit, die die Erinnerung an die Großmutter ist. Diese Großmutter ist ein matriarchaler Gegenentwurf; er enthält bittere Wahrheiten aus dem Leben der Nemcová: „Man trifft leichter einen Freund, als dass man ihn behält.“ Und er enthält viel von den reformpädagogischen Vorstellungen der Autorin, die Märchen sammelt und erzählt. Sie fördert die musische Begabung ihrer Kinder, gegen den Willen ihres Mannes, eines pragmatisch denkenden Beamten. Die Erzählzeiten der Briefentwürfe sind assoziativ. Eine dramaturgische Herausforderung, die der Film souverän meistert. Dagmar Knöpfel kommt dabei dem expressiven Kino sehr nahe. Die Kamera schwankt mitunter subjektiv, folgt minutenlang den Passagen und Gängen der Hauptdarstellerin. Die Heterogenität des Materials wird oft durch akustische Überblendungen zusammen gehalten. Corinna Harfouch ist minimalistisch, und wo sie spielt, spielt sie gegen die Rolle an; keine einzige Nahaufnahme verleiht ihr falschen Schein. Der Kameramann Jan Malír, eigentlich ein Dokumentarist, ist ein Glücksgriff. Farbe und Brillanz sind durch Ausstattung und Material (Super 16) stark zurückgenommen, das gilt auch für die Musik. Die Voice-over-Erzählung beruht auf den drei Briefentwürfen und anderen Originaltexten. Der Film ist die Erzählung einer Toten, beginnt mit ihrem Begräbnis. Die Blutungen ihres Unterleibs haben etwas Vampirisches, wie in Bergmans „Schreie und Flüstern“ (fd 18 675). Schreibend zehrt sie sich selbst auf: „Ich muss schreiben; bin ich oftmals auch bedrückt von Sorgen und Verdruß, so vergesse ich alles, sobald ich mich zum Schreiben hinsetze, und lebe dann in einer anderen Welt.“ Die Wirklichkeit holt sie auf schreckliche Weise ein. 1856 schreibt sie (auf deutsch) an ihre Mutter: „Es kommt mir vor, als wenn eine Wolke so schwarz und schwer wie die Nacht über mir schwebte, mich mehr und mehr niederdrückte, bis sie mich ganz erdrücken wird – und durch diese Nacht sehe ich keinen einzigen Stern, der mir freundlich leuchten möchte.“ Bozena Nemcová wird als Autorin gefeiert, aber ihre Lebensweise wird nicht wirklich akzeptiert. Das schreibende Kommunizieren geht bei ihr hemmungslos bis ins Intimste. Ihrem Mann schreibt sie über ihre Affären, dass sie den Mann nie fand, den sie „gern verehrt hätte“. Eine Ungeheuerlichkeit, wenn man den Zeitkontext bedenkt. Ihr Mann will sie zugrunde richten, ihre Freunde ziehen sich mehr oder weniger verständnislos zurück, ihr Verleger droht: „Wenn Sie das Manuskript nicht sofort beenden, müssen Sie selbst zusehen, wie sie am Leben bleiben; ich habe der Wirtin verboten, Ihnen noch etwas zu geben.“ In dieser Situation schreibt sie die Briefentwürfe, die immer mit der rhetorischen Frage beginnen, warum denn diese Bozena ihr Manuskript nicht abliefert. Dagmar Knöpfel lässt sie die nie abgeschickten Briefe in die Fensternische zwischen Außen- und Innenfenster legen. Im Niemandsland. Die Briefe reflektieren die Eingangsfrage, ohne sie zu beantworten. Zwischen Exkursen über ihre Ehetragödie und glücklichen Erinnerungen schieben sich ausführliche Beschreibungen von scheinbar Nebensächlichem: gutes Essen, Schreibutensilien, Damenbinden, Kleidungsstücke, Topfpflanzen, Gelegenheiten zum Schlafen und zum Baden. Die Dinge des Lebens gewinnen eine elementare Macht und gehen verloren in ihrem letzten Resümee: „...wenn ich also bei Ihnen über ihn geklagt hätte, hätten Sie vielleicht gedacht, dass auch ich daran schuld bin und ihm unrecht tue.“
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