Estland - Mon Amour

Dokumentarfilm | Deutschland 2004 | 96 Minuten

Regie: Sibylle Tiedemann

Die Regisseurin recherchiert die Vergangenheit ihres zwei Jahre älteren Bruders, der in Estland unter ungeklärten Umständen zu Tode kann. Dabei verdichtet sich ihr Film zur neuerlichen Annäherung an den Toten in Form eines intimen Familientagebuchs und wird zugleich zur Liebeserklärung an eine Landschaft, die für den rastlosen Bruder zur zweiten Heimat geworden war, sowie ihrer Bewohner. Der Dokumentarfilm ist voller lyrischer Momente und nicht nur als Instrument der Trauerarbeit zu verstehen, sondern auch als filmische Lebensreflexion. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
MA.JA.DE Filmprod./Sibylle Tiedemann Film/MDR/SWR/arte
Regie
Sibylle Tiedemann
Buch
Sibylle Tiedemann
Kamera
Lars Barthel · Rainer Hoffmann · Kornel Miglus
Musik
Villu Veski · Tiit Kalluste · Siiri Sisask · Kristjan Randalu
Schnitt
Inge Schneider
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm

Heimkino

Verleih DVD
Ventura (FF, DD5.1 estnisch, engl. & dt.)
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Diskussion
Die Toten seien aus der Zeit herausgefallen, sagt eine estländische Lebensweisheit. Nach Benachrichtigung vom Ableben ihres zwei Jahre älteren Bruders Klaus – tot aufgefunden in der Garage eines estländischen Bauern am 26. Juli 1996, zwei Uhr nachts – fuhr Sibylle Tiedemann („Kinderland ist abgebrannt“, fd 33 340) zweimal nach Estland. Ihre Reiseerfahrungen hielt sie als Video-Tagebücher fest. Der Film, der daraus entstand, ist eine filmische und ästhetische Reflexion über die Vergangenheit: über Kindheitserinnerungen, Familienbeziehungen, Karrierewege, Lebenspfade. Dabei weilt die Filmemacherin, als wolle sie das „Aus-der-Zeit-Fallen“ der estländischen Weisheit filmisch nachahmen, zwischen zwei Welten. In die Recherche über Tod und Leben ihres Bruders wird das intime Familientagebuch der Tiedemanns, die Welt der gemeinsamen Kindheit, in alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen integriert: das Leben einer Neu-Ulmer Arzt-Familie mit zwei Kindern. Sohn Klaus ist als Nachfolger der väterlichen Praxis vorgesehen. Die Aufnahmen der Geschwister dokumentieren, zusammen mit der Stimme aus dem Off, die Verbundenheit zwischen dem Bruder und der kleineren Schwester. Diese Erinnerungsbilder liefern die Folie, vor der sich die minutiöse Spurensuche der Regisseurin in Estland entfaltet. Die Todesursache „Herzinfarkt“ akzeptiert sie nicht als letzte Wahrheit. Sie will Klaus’ Identität in Estland aufspüren. Dieser, ein Industrie-Desginer, hatte nach mehreren Reisen in das Herkunftsland seines Vaters Wurzeln geschlagen und dort ein neues Leben im Kreis herzlicher Menschen gefunden. Estland mit seinen neuen Freunden wurde für ihn zur „Heimat des Herzens“. Sibylle Tiedemann wandelt unbeirrbar auf den Lebenspfaden des naturverbundenen Aussteigers. Ihre erste Reise kurz nach dem Tod des Bruders 1996 wird durch das Abwickeln bürokratischer Angelegenheiten bestimmt, das Kramen in Hinterlassenschaften des Bruders, das misstrauische Befragen der Polizei nach den Todesumständen. Sie eckt an, verlässt Estland und kehrt sieben Jahre später zurück. Diese zweite Reise verläuft anders: Die Regisseurin lebt nun auf der Halbinsel Kesmo, mit Blick aufs Meer, in pittoresker Umgebung in der Nähe des Todesortes. „Estland – Mon Amour“ wird nach anfänglicher spröder Annäherung zunehmend zu einer Liebeserklärung an Kesmo. Der Ort wird zu einem Raum, der Kraft gibt, und er lässt für Sibylle Tiedemann die eigenen Familienursprünge offenbar werden. Feinfühlig nähert sich ihr Film den Riten und Lebenseinstellungen, Alltagsnöten und Festen der Estländer auf Kesmo an. Die Dokumentarfilmerin forscht mit ihren neuen Freunden, den alten Kumpels ihres Bruders, nach dem Sinn des Lebens und nach dem Tod als letzte Reise ins Dunkel. Ihr Film ist somit auch die intime Trauerarbeit über den Verlust einer verwandten Seele. Philosophische Weisheiten der Estländer, gewonnen aus ihrem Umgang mit dem Tod, werden für die Schwester eine Hilfe in der eigenen Problembewältigung; eine alte Schriftstellerin empfiehlt beispielsweise den Sternenhimmel als Ankerpunkt der Hoffnung. Außerdem demonstriert der Film, wie Tiedemann durch vorsichtiges Nachfragen die wahre Todesursache ihres Bruders erfährt: Der Tote wurde ohne Geld und mit dem Kopf an eine Leiter gelehnt gefunden. In Gesprächen mit einer Krankenschwester und dem Leichenwäscher erfährt sie, dass Klaus eine Narbe am Hinterkopf hatte. Dorfbewohner berichten ihr, dass er 2.500 DM bei sich hatte; die Polizei leitete jedoch keine Ermittlung ein. Letzte Auskünfte erhält Sybille Tiedemann von Freunden, die sahen, dass der Bruder nach der Feier zur Mittsommernacht allein durch den Wald nach Hause zurückging. Das Autopsieergebnis verweist schließlich auf ein Gehirntrauma nach vorangegangenem Schädelbruch. „Jeder Tod hat sein Gelächter“, meint der Estländer, und so verstarb Klaus wie ein echter Estländer: „Wenn es dein Schicksal ist, im Wald zu sterben, dann stirbst du nicht im Meer.“ Von anfänglicher Beklommenheit und Feindseligkeit durch die Konfrontation mit dem Tod über die Heiterkeit der Kindheits- und Familienbilder reicht die filmische Lebens- und Todesreflexion vom poetischen Tiefgang bis zur Burleske. So kam die Urne von Klaus erst verspätet in Deutschland an. Zuvor war sie einmal um die ganze Welt geflogen, verlautet eine verschmitzte Stimme aus dem Off. Klaus, der Aussteiger, nun auf Abwegen ins All? Die Landschaftsaufnahmen von Kesmo – die Steinriesen am Meer, die Sonnenuntergänge, die Blicke durch Café-Räume auf Wiesen und Wälder, das Flirren des Sonnenlichts in den Birkenwäldern – verleihen dem Film lyrische Momente und nehmen der Erfahrung mit dem Tod die Härte. Die Suche nach den letzten Lebensmomenten gerät dank filmischer Aufarbeitung zur Sinnsuche mit Humor: „Estland liegt mitten im Leben.“
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