Das schlafende Kind

Drama | Marokko/Belgien 2004 | 95 Minuten

Regie: Yasmine Kassari

Nach einem tristen Hochzeitsfest verlässt der Bräutigam die Heimat in den marokkanischen Bergen, um in Spanien Arbeit zu suchen. Zurück bleiben Frauen aus vier Generationen in der ungewissen Hoffnung auf Nachricht. Als die junge Ehefrau schwanger wird, lässt sie das Kind von einer Heilerin in eine Art Schlaf versetzten, bis der Mann zurückkehrt und der Zauber wieder aufgehoben wird. Der Film schildert ebenso nüchtern wie eindringlich das Leben in der Einöde einer zerfallenden Welt. Das "schlafende Kind" ist ein Aberglauben, der die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrecht erhält. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
L' ENFANT ENDORMI
Produktionsland
Marokko/Belgien
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Les Films de la Drève/Les Coquelicots de l'Oriental
Regie
Yasmine Kassari
Buch
Yasmine Kassari
Kamera
Yorgos Arvanitis
Musik
Koussan Achod · Armand Amar · Lévon Minassian
Schnitt
Susana Rossberg
Darsteller
Rachida Brakni (Halima) · Mounia Osfour (Zeinab) · Aïssa Abdessamie (Amziane)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama

Diskussion
Ein Dorf feiert Hochzeit, aber es will keine rechte Stimmung aufkommen. An der tristen Umgebung der kargen marokkanischen Hochebene liegt es nicht, sie ist der Lebensraum der wenigen Bewohner; auch nicht daran, dass sich Zeinab, die Braut, zunächst nicht bewegen darf und danach erst einmal den üblichen Waschungsritualen unterworfen wird. Es ist der Bräutigam, der abwesend wirkt. Kein Wunder, denn schon am nächsten Tag wird er aufbrechen, um sich in Spanien Arbeit zu suchen. Die Hochzeit ist zugleich sein Abschiedsfest, für ihn wie für den Mann von Zeinabs Freundin Halima. Das Dorf, eher ein Weiler, besteht aus einer Handvoll Steinhütten inmitten in einer Gras- und Felssteppe. Früher, sagt einer, gab es hier wenigstens noch Gräben mit Wasser zur Bestellung der Felder, jetzt reißt der Fluss selbst noch die paar Tropfen Regen mit sich. Fast ein Dutzend Frauen und Mädchen aus vier Generationen bleibt zurück, wartend, auf eine Nachricht aus der Fremde, auf Geld, auf Reisepapiere, vor allem aber auf die Rückkehr der Männer. Mit der Sachlichkeit einer Dokumentarfilmerin schildert Yasmine Kassari die Ereignisse im Niemandsland. Die Dinge geschehen mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, ohne dramatisiert zu werden. Tatsächlich hatte Kassari vorher eine Dokumentation genau über jene Welt gedreht, die in diesem Film so fern wirkt: die der marokkanischen Hilfsarbeiter in Spanien, die unter elenden Bedingungen für Hungerlöhne schuften. Nur auf zwei Videobändern, die jeweils erst nach Monaten ankommen, dringt deren Welt in die marokkanische Heimat ein. Zusammen mit Leidensgenossen sind die seit Monaten schmerzlich vermissten Männer zu sehen, versammelt in einer Küche, und grüßen ihre Familien. Sie wirken nicht sehr optimistisch, was die zu erwartenden Einkünfte, was ihre Zukunft angeht. Die Frauen sitzen derweil im Halbkreis vor dem einzigen Fernseher weit und breit, betrachten das Band und wissen nicht, wie lange sie noch warten müssen. Dann gibt es Anzeichen dafür, dass Zeinab schwanger geworden ist. In ihrer Not pilgert sie auf Anraten der Mutter in die Stadt und veranlasst eine Heilerin, das Kind „schlafen zu lassen“ – es also mittels weißer Magie daran zu hindern, sich weiter zu entwickeln, so lange, bis der Zauber enthoben wird. Die simple Prozedur scheint anzuschlagen, aber kaum dass der Ehemann im fernen Spanien davon erfährt, befiehlt er, das Kind auszutragen. Der Mythos des schlafenden Kindes ist nicht nur ein Aberglauben, sondern auch ein in der Scharia, dem islamischen Recht, verankertes Prinzip, das etwa außerehelichen Kindern einen rechtlichen Status beibringen kann. Für Zeinab verstärkt die Verzögerung den Eindruck, sich in einem Zwischenstadium zu befinden, in einem Wartezustand auf das eigentliche Leben mit Mann und Kind und Einkommen. Ihre Freundin Halima blickt weniger gleichmütig ihrem Schicksal entgegen, versucht eine Annäherung an einen der daheim gebliebenen jungen Männer und noch einiges mehr, um sich aus der Umklammerung der Tradition zu befreien. An ihr kann Zeinab ihre eigene Haltung überprüfen. Ob sie sie beibehalten wird, bleibt offen. Yasmine Kassari gewährt Einblicke in eine Welt, die weit von hiesigen Lebensgewohnheiten entfernt liegt und doch so gar nicht gängigen Klischees entspricht. Weder spielt der Islam eine prägende, repressive Rolle, noch wirkt das Zusammenleben archaisch, trotz mancher derber Rituale, die gerade kleine Gemeinschaften kennzeichnen. Es ist eine Welt, die im Zerfallen begriffen ist und deren Zerfall kaum jemand bedauert. Allein die Großmutter spricht von den guten alten Zeiten, da das Leben in dieser Gegend noch funktionierte. Jetzt ist dort nichts mehr, kein Wasser, kein Strom, keine Männer, kein Leben. Das, was von diesem Leben übrig geblieben ist, nehmen die Frauen beherzt in die Hand, so lange, bis ihre Hoffnungen erfüllt werden – oder sich zerschlagen. Bis auf die Darstellerin der Halima sind alle Mitwirkenden Laien aus der gezeigten Gegend, die präzise und einfühlsam spielen, getragen vom langsamen Tempo der Umgebung, getrieben aber auch von tapfer versteckten Gefühlen der Angst, der Liebe, der Trauer. Die Bilder sind kunstvoll arrangiert und behalten zugleich das nüchterne Konzept der Regie bei; komponiert zu einer Landschaft aus Gesichtern, weißen und roten Kleidern, Teppichen und darauf kauernden Restfamilien, Steinhütten und Steppen.
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