Komm, wir träumen!

Drama | Deutschland 2004 | 93 Minuten

Regie: Leo Hiemer

Ein Zivildienstleistender in einer Behindertenwerkstatt wendet sich besonders einer etwa gleichaltrigen geistig Behinderten zu. Als sich seine fachlichen Ambitionen und seine Gefühle für die trotzig-"ungebändigte" Frau überkreuzen, beginnt eine Zeit des verwirrten, oft traumartigen Verliebtseins, aber auch der schweren, am Ende notwendigen Ablösung. Eine zurückhaltend, zeitweise spröde, aber höchst einfühlsam entwickelte Liebesgeschichte, die sehr genau die Grenzen des Machbaren und Erlaubten auslotet und im Spannungsfeld individueller Wünsche und sozialer wie politischer Realitäten seelischen wie körperlichen Grenzen nachspürt. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Leo Hiemer Filmprod./Gerhard Baier Filmprod.
Regie
Leo Hiemer
Buch
Volker Jehle
Kamera
Marian Czura
Musik
Cathedrals
Schnitt
Ulrike Leipold
Darsteller
Anna Brüggemann (Ulrike) · Julian Hackenberg (Eckart) · Jockel Tschiersch (Porzig) · Beata Lehmann (Rünger) · Monika Schubert (Brommer)
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Liebesfilm
Externe Links
IMDb

Diskussion
Die Geschichte einer geträumten (Liebes-)Beziehung: Komm, wir träumen – das heißt: Komm, wir machen etwas möglich, was in der Wirklichkeit „nicht geht“. Eckart kommt als Zivildienstleistender in eine Behindertenwerkstatt. Der junge Mann ist ebenso engagiert wie couragiert, hat keine Berührungsängste, will sich beweisen und zeigen, dass er Verantwortung übernehmen und ihr gerecht werden kann. Ulrike ist geistig behindert. Sie arbeitet in der Werkstätte, sofern sie nicht einen ihrer unkontrollierbaren Wutanfälle bekommt. Eigentlich sei sie ein Fall fürs Lerchenfeld, sagen ihre leicht resignierten Betreuer, eine geschlossene „Förderstätte“; dann sei auch die übrige Gruppe leichter zu steuern. Eckart geht vorurteilsfrei und offen auf die nahezu gleichaltrige Ulrike zu und findet schnell Zugang zu ihr. In ihrer kindlich spontanen und deshalb oft genug unberechenbaren Art, mit ihren Gefühlen umzugehen, schenkt Ulrike ihrem Betreuer schon bald ihre ganze Aufmerksamkeit – und öffnet damit eine Schleuse, von der niemand weiß, wohin die freigesetzte Energie fließen und wer sie kontrollieren oder eindämmen wird. Einerseits ist Ulrike nun auf dem Weg zur Integration in die Gruppe; sie, die bislang von sich nur in der dritten Person redete, sagt manchmal sogar „Ich“. Andererseits bürdet sie Eckart eine Last auf, der er sich zunächst gewachsen glaubt. Während der Alltag in der Behindertenwerkstatt weiter geht, die Gruppenleiterin wechselt und es entsprechend neue Bezugspunkte gibt, auf die Eckart reagiert, kann Ulrike solche Flexibilität nicht leisten. Intuitiv reagiert sie mit Misstrauen und Eifersucht, geht immer offensiver auf Eckart zu, fordert seine ungeteilte Zuneigung, seine Liebe, seine Leidenschaft – Gefühle, die Eckart zutiefst verwirren, ist doch auch er längst nicht ohne Empfindungen für Ulrike. Nach einem Ausflug, der zur Gratwanderung wird, ist klar: Es muss ein Traum bleiben. Für den Betreuer und die Betreute gibt es keinen gemeinsamen Weg. Während des Wanderausflugs führt Eckart Ulrike einmal auf einen Kirchturm, zeigt ihr die Aussicht von oben und fragt, was sie sähe. „Alles!“, antwortet Ulrike begeistert und fragt: „Das ist die Welt?“ Es sei nur ein Teil davon, erklärt der junge Mann, was Ulrike zutiefst empört: „Und warum zeigst Du mir nicht alles?“ Ja, warum eigentlich nicht? Warum sollte es nicht möglich sein, dass der jungen Frau alles in der Welt gezeigt wird? Leo Hiemer hat sich bereits vor zehn Jahren mit seinem anrührenden Film „Leni“ (fd 30 865) als „pragmatischer Utopist“ erwiesen, der sehr genau die Grenzen des Machbaren, des Zulässigen und des Erlaubten auslotet und im Spannungsfeld individueller Wünsche und sozialer wie politischer Realitäten nach dem Lebenswerten und dem Lebensfeindlichen fragt. Auch in „Komm, wir träumen!“ überzeugt seine präzise und unaufgeregte, gleichwohl emotionale und herzenswarme Analyse der Verhältnisse. Da ist einerseits der dokumentarische Ansatz der Geschichte: Hiemer verfilmte einen autobiografischen Roman von Volker Jehle und drehte in einer real existierenden Werkstatt mit Behinderten, die sich zu Beginn selbst vorstellen und dabei offen von ihrer Sehnsucht nach Liebe und Verliebtsein sprechen. Diese authentische Unterfütterung verdichtet Hiemer zu einer zarten, kinoaffinen Liebesgeschichte, die ganz von den beiden nicht behinderten Hauptdarstellern getragen wird, wobei es vor allem Anna Brüggemann mit ihrer Interpretation der quirlig-extrovertierten, trotzig-„ungebändigten“ Ulrike eindrucksvoll gelingt, Hiemers Ansatz zu versinnbildlichen. Es geht dabei weniger um einen konkreten psychisch-therapeutischen Krankenbericht als um die grundsätzliche Relevanz von Empfindungen und seelischen (Grund-)Bedürfnissen. Die Frage nach einer geistigen Behinderung bleibt zwar relevant, ist aber nicht die alles entscheidende; Liebe erweist sich vielmehr als Kategorie jenseits von Fragen nach dem „Normalen“ und dem „Gestörten“, als Spiegel eines Seelenlebens, das entweder zugelassen oder behindert wird. Wer aber, so fragt Hiemer, bestimmt das Maß, das dabei als „normal“ und gesund gilt? Auf dieser komplexen Grundlage entwickelt sich eine zurückhaltende, kleine und zeitweise spröde, aber stets einfühlsame Liebesgeschichte, der allenfalls einige wenige, zumeist dem schmalen Budget geschuldete, inszenatorische Schwächen nachzusagen wären. Die stets abgeblendeten Sequenzen reihen sich zu einer Chronik der allmählichen Annäherung, des verwirrten, oft traumartigen Verliebtseins und der schweren, am Ende aber notwendigen Ablösung, wobei Hiemer aufmerksam den seelischen wie körperlichen Grenzen nachspürt, die ja immer auch ethische sind, vor allem dann, wenn ihre Überschreitung droht. Die komplizierte Beziehung von Eckart und Ulrike entwickelt sich leise – und vor allem auch ohne jedes tranige Gefühlspathos, das beispielsweise Til Schweigers „Barfuss“ (fd 36 996) so unerträglich macht. Dort legte am Ende die „gesundende“ Frau ihre Befindlichkeit einfach als liebenswert-kurioses Kaspar-Hauser-Image beiseite und ließ sich vom liebenden Mann bändigen; bei Hiemer aber wirken die Fragen nach einem beschädigten Leben nach, lenken den Blick auf die Absurditäten eines Alltags, der anders funktioniert als im Kino: nüchterner, unspektakulärer, manchmal aber auch weit grausamer und unerbittlicher.
Kommentar verfassen

Kommentieren