Lost Children - Verlorene Kinder

Dokumentarfilm | Deutschland 2005 | 103 Minuten

Regie: Ali Samadi Ahadi

Dokumentarfilm über das Schicksal von "Kindersoldaten" im Norden Ugandas, ihre Taten und Leiden sowie ihren fast unmöglichen Weg zurück ins normale Leben. Die knappen politischen Dokumente münden unmittelbar in die authentischen, gleichwohl narrativ aufbereiteten Schicksale von vier "verlorenen Kindern", wobei aus Fakten ebenso schockierende wie erhellende Geschichten werden, die bei allem Schrecken stets auch von der Hoffnung auf seelische wie körperliche Genesung sowie eine bessere Zukunft geprägt sind. Indem der Film nicht in Apathie verharrt, sondern Handlungsfähigkeit signalisiert, verweist er auf den allgemeingültigen Wert eines Menschen und sein Recht auf ein Leben in Frieden und Würde. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Dreamer Joint Venture/ARTE/ WDR
Regie
Ali Samadi Ahadi · Oliver Stoltz
Buch
Ali Samadi Ahadi · Oliver Stoltz
Kamera
Maik Behres
Musik
Ali N. Askin
Schnitt
Ali Samadi Ahadi
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Auch in der Rückbesinnung will man sich „Lost Children“ nur über den Kopf nähern und lässt die emotionale Erschütterung nur zögerlich wieder zu, die er beim Sehen auslöste. Doch die Eindrücke sitzen zu tief. Nicht, weil „Lost Children“ mit tiefschürfenden Analysen eines der grausamsten Kriege in Afrika konfrontieren würde, sondern weil er daraus nachvollziehbare kleine Geschichten formt, Geschichten über Kinder, ihre unvorstellbaren Schicksale als „Kindersoldaten“ im umkämpften Norden Ugandas, über ihre Taten und ihr Leiden, ihre körperlichen wie seelischen Wunden und den fast unmöglichen Weg zurück in ein normales Leben. Trotzdem sind es auch Geschichten über die leise Hoffnung auf Genesung, gespeist aus der bewundernswerten Kraft und dem immer noch keimenden Lebensfunken dieser Kinder, gehegt und genährt durch die Arbeit couragierter Sozialarbeiter, die den Kindern, aber auch ihrem Heimatland das bewahren helfen, was andere mit Füßen trampeln: ihre Würde, das Recht auf Individualität, Freiheit und Respekt, auf Leben überhaupt. Die politischen Zusammenhänge benennt der Film an einigen Stellen mit knappen Informationen, ohne dabei den Eindruck zu vermitteln, dass sich das systematische Morden auch nur annähernd begreifen ließe. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit führt die fanatisch-religiöse Rebellenorganisation „Lord’s Resistance Army“ (LRA) im Norden Ugandas einen barbarischen Kampf gegen die Regierung, einen unberechenbaren Krieg ohne klare Fronten, der zu einem permanenten Flüchtlingsstrom Hunderttausender im eigenen Land führt. Sie seien keine Rebellen, verteidigt sich in einem kurzen dokumentarischen Einsprengsel einer der Anführer – vielmehr sei Gott mit ihnen. In seinem Namen entführen sie Kinder aus den Dörfern und zwingen sie zum Töten. „Geht und schneidet sie in kleine Stücke, so klein, dass die Fliegen sie tragen können“, hat man ihnen befohlen. „Also gingen wir los und zerhackten sie.“ Sie, das sind entführte Gegner der LRA, und das kann jeder sein; auch Kinder und Familienangehörige der „Kindersoldaten“. Die wenigen Dokumente dieses Krieges bleiben unvergesslich, nicht zuletzt, weil sie rein gar nichts von der visuellen Ästhetik einschlägig „vertrauter“ Fernsehbilder haben, vor allem aber auch, weil sie unmittelbar zu den narrativ aufbereiteten Schicksalen von vier „Kindersoldaten“ überleiten: Aus den unbegreiflichen Fakten werden sinnlich greifbare Geschichten. Es sind die episodisch ineinander verzahnten Geschichten über Francis (12), Jennifer (14), Kilama (13) und Opio (8), die über einige Monate hinweg auf ihrem schwierigen Weg zurück ins normale Leben begleitet werden. Sie alle kamen nach der geglückten Flucht aus den Buschcamps der „Rebellen“ nach Pajula, einem Ort mitten im umkämpften Gebiet in Nord-Uganda, wo sie Aufnahme in einem Auffanglager von Caritas International für „Kindersoldaten“ fanden. Hier werden sie gepflegt, körperlich versorgt, in Einzelgesprächen therapeutisch behandelt und behutsam auf die Rückführung in ihren Alltag und in ihre Familien vorbereitet – ein heikles Unterfangen, weil sie die Sozialarbeiter mit teilweise desaströsen Familienverhältnissen konfrontieren, die im Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne ebenso vom Glauben an die Kraft archaischer Rituale wie von Alkoholismus, zerrütteten Ehen und verhärteten Geschlechterbeziehungen geprägt sind. Alles kommt hier zusammen und verbindet sich zu einem komplexen System aus Problemen, das sich kaum entwirren lässt. In vielfacher Weise erscheinen die Kinder als Opfer: missbraucht und angehalten zu morden, auch sexuell missbraucht, gequält von Schuldgefühlen, die sich in ihren Träumen einen Weg bahnen, und nun auch noch misstrauisch beäugt von den eigenen Familien, ungewollt, ungeliebt, unverstanden. Manchmal gelingt die Rückführung, oft genug aber verschwinden die Kinder wieder irgendwo außerhalb des Einflussbereichs der Sozialarbeiter. Davon zeugen die Wege der vier ausgewählten Beispiele, die das Spektrum der Möglichkeiten auffächern und sich zu packenden Lebensbeschreibungen verdichten: über Opio etwa, der schlimmste Grausamkeiten beging und selbst unter nicht minder grausamen Folterungen litt, wie er um Balance ringt, nicht nur sinnbildlich beim Fahren auf einem Erwachsenenrad; oder über Jennifer, eine, wenn sie lächelt, plötzlich so charmante Teenagerin, die sich mit zögerlichen Buntstiftstrichen erste (selbst-)bewusste Ausdrucksformen erarbeitet, später die Chance auf eine Ausbildung als Näherin erhält und mit neuen, vergleichsweise aber alltäglichen Problemen wie einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert wird. In (deutsch untertitelten) Originalaussagen der Kinder und aus dem Off von deutschen Kinderstimmen nachgesprochenen Erzählungen wechselt der Film geschickt zwischen Nähe und Distanz, zwischen der behut- und einfühlsamen Annäherung an die Kinder und der rationalen Auseinandersetzung mit ihren Schicksalen. Damit funktioniert er phasenweise ähnlich therapeutisch wie das Wirken der Sozialarbeiter, die sich den schwierigen Weg im Umgang mit den Kindern hart erkämpfen und ihre eigene Befindlichkeit rigoros zurückstellen. Der 29-jährige John Bosco und die 23-jährige Grace Arach bekennen ihre alltägliche Angst, nicht nur um die eigene Sicherheit, sondern auch vor dem Verrücktwerden angesichts der Kinderschicksale. In ihrem Mut sind sie bewundernswerte Repräsentanten eines anderen, „besseren“ Lebens in Uganda, ein konkretes Versprechen auf die Zukunft. Der Film nimmt noch einen weiteren erzählerischen Faden auf und bindet ihn in das Geflecht der Episoden ein. Ganz zu Beginn holen die Sozialarbeiter in einem Dorf ein in Lumpen verstecktes Kind ab, das sich nur zögerlich ans Tageslicht hinauswagt. Sprachlos, apathisch, gezeichnet von hässlichen Wunden, vor allem an den Füßen, wobei man lange gar nicht erkennen kann, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Wo man sich als Zuschauer schockiert abwenden möchte, demonstrieren die Sozialarbeiter – und mit ihnen der Film –, dass und wie es möglich ist, sich mit unaufgeregter Selbstverständlichkeit, still und nahezu bescheiden diesem zer- und verstörten Menschen zu nähern. Das Mädchen wird gewaschen, medizinisch versorgt und behutsam in die Schar der übrigen Kinder integriert. Seine stummen Blicke, während es am Rande still Tee trinkt, lassen ganz allmählich einen neuen Glanz erkennen, eine erste Aufmerksamkeit für die Umwelt, den winzigen, noch trügerischen Schimmer einer Hoffnung darauf, dass hier einmal wieder ein teilnehmendes Leben möglich werden könnte. In der Summierung aller dokumentarischen und narrativen Facetten leistet der Film Beeindruckendes. Er klärt auf, indem er schockiert, ohne in Apathie zu erstarren, da er Handlungsfähigkeit signalisiert. Der Schrecken darüber, dass es auf dieser Welt solche Unmenschlichkeit gibt, mag groß sein – doch der Film zeigt Wege, damit umzugehen, um sie am Ende womöglich aus der Welt zu räumen. Es ist dies eine Leistung, die man nicht hoch genug anrechnen kann: dass der Film es beispielsweise schafft, einen verstümmelten Jungen zu zeigen, dem man Nase, Ohren, Lippen und Hände abgeschnitten hat, ohne dass man die Augen verschließen möchte, sondern begreift, dass dieser Junge mehr denn je das Recht auf Aufmerksamkeit, Zuwendung und Integration hat. Gleichwohl stellt sich die Frage: Ist dieser brisante Film, der so intensiv vom Schicksal einiger Kinder erzählt, auch ein Kinderfilm? Würde man ihn auch hiesigen Kindern „zumuten“ können? Wer ausschließlich durch das seichte Family Entertainment weich gespülter Heile-Welt-Kino-Fantasien sozialisiert ist und Kino nicht auch als einen Ort der emotionalen wie argumentativen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit kennen und verstehen gelernt hat, der könnte von „Lost Children“ in der Tat tief in seinen Grundfesten erschüttert werden – wobei dies freilich mehr noch jeden ähnlich konditionierten Erwachsenen droht als Kindern und Jugendlichen, die durchaus bereit sind, sich im Kino mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen. Es gibt zahlreiche außergewöhnliche, im guten Sinne rigorose Kinderfilme über Themen wie Tod, soziale Benachteiligung, Alkoholismus, Diskriminierung und Rassismus, die auf ihre Art bezeugen, dass die afrikanische Kriegswelt der „verlorenen Kinder“ geografisch zwar weit entfernt ist, dass die implizierten Fragen nach dem Wert eines Menschen, nach seinen Rechten und Ansprüchen, seinen Wünschen und Hoffnungen aber allgemeingültig sind und jeden betreffen. „Lost Children“ geht jeden etwas an, und er gibt jedem Betrachter etwas, das ihn ein Stück weit verändern wird.
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