89 Millimeter

Dokumentarfilm | Deutschland/Weißrussland 2004 | 76 Minuten

Regie: Sebastian Heinzel

Fünf Reisen durch Belarus, bei denen die Filmemacher junge Menschen porträtieren, die mehr oder weniger zufällig ihre Wege kreuzen. Durch die kluge Struktur des Films entsteht ein erhellendes Generationenporträt, das nicht nur die Menschen und ihre Hoffnungen vorstellt, sondern auch die Befindlichkeit einer Region spiegelt, die von Westeuropa weiterhin abgeschnitten ist. (O.m.d.U.) - Ab 14 möglich.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Weißrussland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Kloos & Co. Medien
Regie
Sebastian Heinzel
Buch
Sebastian Heinzel
Kamera
Eugen Schlegel
Schnitt
Lena Rem
Länge
76 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14 möglich.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Auf dem Bahnhof in Brest, an der Grenze zwischen Polen und Belarus, werden die Züge nach Russland einer veränderten Spurbreite angepasst – die Gleise in Weißrussland sind exakt 89 Millimeter breiter als im Westen. Eine relativ kleine, klar bezifferbare Differenz, die Regisseur Sebastian Heinzel in seinem Dokumentarfilmdebüt als Symbol für all das dient, worin sich der Alltag „junger Leute“ in Weißrussland vom Leben in Deutschland unterscheidet. All das, was sozial, politisch und kulturell anders ist und sich oft nur schwer festmachen lässt, misst Heinzel in seiner Dokumentation aus, ohne dabei gängigen Klischees aufzusitzen. Viel weiß der bei Drehbeginn 24-jährige Regisseur nicht über das Land, als er gemeinsam mit seinem aus Kasachstan stammenden Kameramann, Eugen Schlegel, nach Belarus reist. Seine Neugierde ist durch einen Kurzaufenthalt in Minsk geweckt worden, jetzt will er mehr über den Staat, den viele als „letzte Diktatur Europas“ bezeichnen, und seine Bewohner herausfinden. Scheinbar naiv und unvorbelastet macht sich Heinzel auf den Weg; ohne Drehbuch, wie er selbst sagt, dafür offen für zufällige Begegnungen mit jungen Weißrussen. Gleich im Zug lernen die Filmemacher den 25-jährigen Slava kennen. Slava ist unterwegs von Berlin, wo er bei seinem Vater lebt, nach Minsk, zu Frau und Tochter. Regelmäßig pendelt er zwischen beiden Familien hin und her, leidet er beim Abschied. Sein Vater, so erzählt er später, war als Gefängnisdirektor in Minsk für die Exekutionspistole verantwortlich (Belarus gilt aktuell als einziges europäisches Land, in dem die Todesstrafe noch vollstreckt wird). Gelegentlich kam es vor, dass Vorgesetzte sich die Waffe „ausliehen“, und zwar immer dann, wenn kurz darauf Oppositionelle spurlos verschwanden. Slavas Vater wollte nichts mehr damit zu tun haben und flüchtete in den Westen. Die Lebensgeschichten der anderen jungen Menschen, die Heinzel und Schlegel bei ihren insgesamt fünf Reisen nach Belarus trafen, fallen kaum weniger eindringlich aus. Der Fassadenmaler Pavel saß wegen mehr als 200 Wohnungseinbrüchen über drei Jahre lang im Gefängnis; Alexander ist Aktivist der größten Widerstandsbewegung des Landes; „Zubr“ (zu deutsch: „Bison“), überzeugter Patriot und erbitterter Gegner Alexander Lukaschenkos, der 1994 das Parlament entmachtete und die Präsidialrepublik ausrief, was Belarus einen Eintrag in die US-Liste der „Schurkenstaaten“ einbrachte. Ludmilla studiert Journalistik, orientiert sich am westlichen Lebensstil und verteidigt ihre persönliche Freiheit mit einer Bierdose in der Hand oder indem sie gegen das Rauchverbot an der Uni verstößt. Der Soldat Igor liebt das Landleben, die Jagd und Belarus, will aber mit Politik nichts zu tun haben. Die 23-jährige Tanzlehrerin Olga schließlich träumt von einem Leben als Künstlerin, muss sich ihren Lebensunterhalt vorläufig jedoch als Go-Go-Tänzerin verdienen. Heinzel verflechtet die intensiven Lebensläufe zu einem aufregenden Gesamtgebilde. Mutig, subversiv gedreht, ohne offizielle Genehmigung, dafür mit hohem persönlichen Einsatz und Risiko, entstand ein faszinierendes, hautnahes Generationenporträt. Ästhetisch ragt der klug strukturierte, vor allem aus Groß- und Nahaufnahmen montierte Film kaum über gehobenes Fernsehformat hinaus, doch der Verzicht auf visuelles Spektakel zahlt sich aus. Wie alte Freunde begleitet die Zwei-Mann-Crew die Protagonisten durchs Leben. Hier macht auch die derzeitige Doku-Mode Sinn, den Regisseur immer mal wieder ins Bild zu rücken, wenn er zum Beispiel Selbstgebrannten trinkt oder ohne viel Aufhebens ein Bison-Transparent in seinem Auto vor der Miliz versteckt. Dem atmosphärischen Reiz wird dabei allerdings eine journalistische Transparenz geopfert, die besonders angesichts des brisanten Themas wünschenswert gewesen wäre. Alleine durch Glücks- und Zufälle dürften die Filmemacher sich wohl kaum plötzlich im Herzen einer Widerstandsbewegung wiedergefunden haben. Doch obwohl sich Heinzel nicht vor der Kamera versteckt, verrät er gerade nicht, was sich dahinter abgespielt hat.
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