Mein Bruder - We'll Meet Again

Dokumentarfilm | Deutschland 2005 | 57 Minuten

Regie: Thomas Heise

Thomas Heises sehr persönlicher Dokumentarfilm, die Geschichte eines Verrats im Stasi-Auftrag, schlägt eine kuriose Volte: Heute lebt das Opfer bei seinem Spitzel in einem Landhaus am Fuß der französischen Pyrenäen und ist nach drei Herzinfarkten davon überzeugt, dass dies der beste Platz zum Sterben sei. Der Freund ist ein Spezialist für Herzschrittmacher, der Mann der Bruder des Dokumentaristen. Eine eigentümliche, gelegentlich ratlose Melancholie liegt über der Sprachlosigkeit, die das Verhältnis von Opfer und Täter auszeichnet, aber auch der Brüder untereinander. Gleichwohl eine spannende und wichtige Aufbereitung ostdeutscher Befindlichkeiten vor elegischen Tableaus aus Stilleben und Berglandschaften.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Ma.Ja.De/YLE/ZDF/arte
Regie
Thomas Heise
Buch
Thomas Heise
Kamera
Peter Badel · Florian Wimmer
Schnitt
Gudrun Steinbrück · Axel Weber
Länge
57 Minuten
Kinostart
-
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Zu den Klängen von „We’ll meet again“ bewegt sich die Kamera einer dem Felsen abgerungenen Straße entlang und erkundet die karge Landschaft. „We’ll meet again, don’t know where, don’t know when. But I know we’ll meet again some sunny day.“ Im Sinne von „Man trifft sich immer zweimal“ könnte dies durchaus auch eine sardonische Rachegeschichte werden. Dann aber endet die Exposition mit einer Totalen auf das Dorf Bugarach; in die Musik mischt sich Hundegebell. Einige Oktobertage und -abende in Südfrankreich; tagsüber ist es noch warm, mitunter verdecken tief hängende Regenwolken die höheren Berge der Umgebung. Der Dokumentarist Thomas Heise hat sich auf den Weg gemacht, seinen Bruder Andreas in Südfrankreich zu besuchen. Ein Jahr zuvor zog der schwerkranke Andreas zum Sterben dorthin, weil sich sein bester Freund, der Kardiotechniker Micha, dort niedergelassen hat, wo seine Ex-Lebensgefährtin Yvonne eine kleine Pension führt. Mittlerweile hat Andreas eine Bypass-Operation hinter sich, ordentlich abgenommen und macht einen leidlich gesunden Eindruck. Zwar raucht er immer noch wie ein Schlot und schätzt den Rosé bereits am Nachmittag, aber er ist frisch verliebt in die Frau des Hufschmieds, von dem der Film berichtet, er schlage „ohne Ende“ seine Frau und seine Kinder. Doch Thomas Heises Besuch hat noch einen anderen Grund: Er will mit seinem Bruder „über Micha“ sprechen, legt ein älteres Foto der beiden Freunde auf den Tisch. Andreas ist sofort klar: Es geht Thomas um die „IM-Scheiße da“. Aber er macht eine wegwerfende Handbewegung: „Scheiß druff!“ Klar, schon Kinder wüssten, dass man nicht „petzen“ dürfe, und Micha habe „gepetzt“, aber trotzdem habe ihre Freundschaft weiter Bestand. Der persönliche Schaden, den Micha angerichtet habe, halte sich in Grenzen; außerdem habe Micha früh ausgepackt und die Schuld anschließend mit einem Grappa beglichen. Ändern könne man ohnehin nichts mehr daran, dass sich der beste Freund als Stasi-Spitzel verdingt habe. Man spürt, wie Thomas’ moralisches Insistieren an Andreas abprallt, vielleicht auch, weil ihm seine Gegenwart unendlich wichtiger ist als es die offenen Rechnungen der Vergangenheit sind. Die Kamera tritt aufdringlich auf, will die Personen stellen, die ihrerseits versuchen, sich ihr zu entziehen, indem sie Interviews abbrechen, schweigen, im Gespräch abschweifen oder sich mittels schriftlicher Notizen „verständigen“: Das Nicht-Gesagte kritisiert das Gesagte. Das Skandalon „Micha“ drückt sich lange an den Rändern der Kadrage herum, ist anwesend-abwesend, kommt zunächst gar nicht zu Wort. Derweil sammelt die Kamera Impressionen aus der südfranzösischen Lebenswelt, zeigt Straßen, Parkplätze und Gärten, Alltagsnormalität. Wenn Yvonne davon spricht, dass die Dorfgemeinschaft wie eine „große Familie“ sei, scheint nicht nur Andreas’ neue Liebesgeschichte, sondern auch Michas Vergangenheit solche implizit harmonischen Vorstellungskomplexe wie „Familie“ längst obsolet gemacht zu haben. „Familie“, das heißt Gewalt in der Ehe und Kollaboration mit der Macht, Inklusion und Exklusion. Das ist die eine Seite. Andererseits unterliegen die aktuellen Beziehungen der südfranzösischen Wohngemeinschaft just zu diesem Zeitpunkt einer starken Dynamik: Yvonne und Micha haben sich getrennt, wollen aber weiterhin miteinander auskommen; Andreas will mit seiner neuen Liebe und deren Kindern zusammenziehen. Dann kommt es doch noch zum ausführlichen Interview mit Micha, der seine „widerliche“ Tätigkeit unter anderem damit begründet, dass er helfen wollte, den Sieg des Sozialismus zu befördern; dissidente Haltungen wie jene von Thomas Heise mochte er – „nach Biermann“ – nicht nachvollziehen. Die Stasi-Kontakt-Personen seien eben gerade keine „Arschlöcher“ gewesen, und er habe niemandem schaden wollen. Insgesamt wirkt Micha routiniert hilflos, aber auch aufrichtig, wenn er einräumt, es sei „ziemlich färbend, dieses Kapitel“, und zwar „bei meinem ganzen Leben“. Einerseits. Andererseits lässt er immerhin ein Motiv seines Handelns erkennen, wenn er die privilegierte Position von Heises Familie thematisiert. Neid könnte durchaus eine Rolle gespielt haben. Später bekommt man noch „Akteneinsicht“, kann lesen, welche Texte die Interviews mit den IMs generierten. Soll man darauf so pragmatisch reagieren wie Micha und Andreas? Oder soll man, wie Thomas, „selbstgerecht“ (Andreas über seinen Bruder) auf eine Aufarbeitung des Vergangenen insistieren? Schließlich kulminiert die erstaunliche Ratlosigkeit des Films in einem Gespräch der Brüder, bei dem Andreas konstatiert, das beide, abgesehen von der Politik, nie viel verbunden hätten; jeder hätte in einer anderen Welten gelebt und kaum einmal ernsthaft mit dem anderen gesprochen. So stellt sich die Frage: Ist Micha lediglich Vehikel für ein überfälliges Gespräch der Brüder? Oder ermöglichen gerade die familiären Verbindungen eine erinnernde Rekonstruktion einstiger Widersprüche in der DDR, die hier in Südfrankreich wiederbelebt wird? Nach Berlin will Andreas jedenfalls nicht mehr zurück, dort seien die Zustände derart verfahren, dass man „den Kopf einziehen und wegrennen“ wolle. So erscheint Bugarach als ein Fluchtort, an dem man sich auf ein Beschweigen der Vergangenheit geeinigt hat und pragmatisch in der Gegenwart sein Glück sucht. Das scheint schwierig genug, und so bleibt letztlich unentschieden, ob man Thomas Heises Erscheinen in Bugarach als notwendiges „Gespenst“ oder als Störenfried wertet. Während einem das unablässige, stets etwas selbstgerechte Aufrechnen der DDR-Vergangenheit(en) durchaus auf die Nerven gehen kann, sollte man nicht vergessen, dass es Filme wie „Mein Bruder“ in der Bundesrepublik über die NS-Zeit erst Mitte der 1960er-Jahre („Abschied von Gestern“; fd 14 355) gab. Die Aufarbeitung der deutschen Geschichte bleibt spannend.
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