Dokumentarfilm | Österreich 2005 | 86 Minuten

Regie: Kurt Mayer

1966 wurde die 18-jährige Österreicherin Erika Schinegger Ski-Weltmeisterin im Abfahrtslauf. Ein Jahr später bestätigte sich im Vorfeld der Olympischen Winterspiele, was Erika längst vermutete: Sie ist ein Mann, dessen Geschlechtsmerkmale nach innen gewachsen waren. Während ihre Umwelt den Schein der Weiblichkeit aufrecht erhalten will, setzt Erik(a) alles daran, um zu wahrer Identität zu finden. Dokumentarfilm, dessen Thema in Bann schlägt, auch wenn die angeschnittenen Fragen nach gesellschaftlicher Toleranz, sozialem Miteinander und der Trennlinie von Gender und Sex nicht ausgelotet werden. Dennoch fasziniert der Film als Chronologie einer extremen Lebensgeschichte. (O.m.d.U.)
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Filmdaten

Originaltitel
ERIK(A) - DER MANN, DER WELTMEISTERIN WURDE
Produktionsland
Österreich
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
kurt mayer film
Regie
Kurt Mayer
Buch
Hanne Lassl
Kamera
Helmut Wimmer
Musik
Olga Neuwirth
Schnitt
Charlotte Müllner-Berger
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Es ist eine Story, die so unglaublich ist und so dramatisch klingt, dass es verwundert, warum sie nicht längst schon verfilmt wurde. Es ist die wahre, vom Leben geschriebene Geschichte der österreichischen Skirennläuferin Erika Schinegger, die 1966 bei den Weltmeisterschaften in Chile den Titel im Abfahrtslauf gewann. Eine ganze Nation feierte damals das 18-jährige Bauernmädchen, bis sich ein Jahr später bei neu eingeführten Sex-Kontrollen herausstellte, dass Erika genetisch gesehen ein Mann war. Der österreichische Regisseur Kurt Mayer arbeitet diese Geschehnisse in einem Dokumentarfilm auf, der zwischen den Zeilen erahnen lässt, weshalb das Thema trotz seines spannenden „Plots“ wohl noch immer nicht für große Kino tauglich ist. Von der Wiege an wird Geschlechtsidentität – wahlweise rosafarben oder hellblau – sozial festgelegt. Zappt man beispielsweise durch die deutschen Fernsehkanäle, erscheint der „kleine Unterschied“ als einer der letzten Orientierungspfeiler, an denen sich die Menschen festzuhalten versuchen. Wer da nicht klar einzuordnen ist, verunsichert und wird in den Köpfen der anderen zurechtgedacht oder verachtet. Beides musste Schinegger am eigenen Leib erfahren. Bereits als er 1948 auf dem elterlichen Bauernhof in Agsdorf, Kärnten, zur Welt kam, sorgten seine äußeren Geschlechtsmerkmale für Irritationen, bis die Hebamme schließlich zur Geburt der Tochter gratulierte. Dass Erikas Genitalien ein wenig seltsam geformt waren, störte in den folgenden Jahren außer ihr kaum jemanden. Erika wuchs als Mädchen auf, wurde von der Mutter in Kleider gesteckt und blieb zugleich doch ein Wildfang, der am liebsten mit den Jungs spielte. Erst in der Pubertät, als die Brüste nicht wachsen wollten und die Monatsregel ausblieb, musste Erika sich endgültig eingestehen, dass etwas mit ihrem Körper nicht stimmte. Weil sie sich zudem sexuell eher für Mädchen als für Jungen interessierte, glaubte sie lesbisch zu sein. Vom normalen Teenagerleben fühlte sie sich ausgeschlossen. Fortan steckte sie all ihre Energie ins Skitraining; schon bald sehr erfolgreich. Der Sex-Test vor den olympischen Spielen 1968 ließ Gewissheit werden, was Erika vielleicht schon ahnte: sie war ein Mann. Die äußeren, männlichen Geschlechtsorgane waren nach innen gewachsen, so dass der Unterleib dem bloßen Augenschein nach einer verkümmerten Vagina glich. Von der Außenwelt erfuhr Erik in diesen schweren Tagen keine Unterstützung. Im Gegenteil, man drängte ihn zur Geschlechtsumwandlung, um die (weibliche) Fassade aufrecht zu erhalten. Erik aber entschloss sich, sein Geschlecht operativ „richtig stellen“ zu lassen. Er begann ein neues Leben als Mann. Um allen seine Männlichkeit zu beweisen, bildete er sich am Knigge zum „Gentleman“ aus, kaufte sich einen Porsche und benahm sich wie ein Macho. Er selbst war erst mit sich zufrieden, nachdem er geheiratet und ein Kind gezeugt hatte. Peu à peu enthüllt Mayers Reportage die genaueren Hintergründe der lange mysteriösen Geschlechtsidentität Erik(a)s. Jugendfreunde, ehemalige Skikolleginnen, Funktionäre, Ärzte, Journalisten, Schineggers Mutter und nicht zuletzt Schinegger rekonstruieren die Abläufe in einem Kaleidoskop unterschiedlicher, subjektiver Perspektiven. Optisch präsentiert der Film solide gefilmtes und geschnittenes Fernsehformat. Der Gegenstand der Dokumentation zieht jedoch derart in seinen Bann, dass für cineastische Stilspielereien ohnehin kein Bedarf besteht. Menschliche und gesellschaftliche Grundfragen nach Toleranz, sozialem Miteinander und der Trennlinie von Gender und Sex werden angeschnitten, ohne aber ausreichend vertieft zu werden. Ein wenig verschenkt der Dokumentarfilm das philosophische und politische Potenzial seines Sujets an die Dramaturgie. Allzu stringent und zu chronologisch strukturiert, beschränkt er sich auf ein packendes, kurzweiliges Nacherzählen. Sehenswert bleibt „Erik(a)“ dennoch: ein kostbarer Fund, eine aufwühlende Lebensgeschichte, die, weit über das erschütternde Einzelschicksal hinaus, nachdenklich stimmt.
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