Liebesfilm | Finnland/Deutschland/Lettland/Russland 2003 | 103 Minuten

Regie: Mika Kaurismäki

Ein Amerikaner, den seine Geliebte in der mitteldeutschen Stadt Halle vor die Tür setzt, bricht als singender Alleinunterhalter ins Baltikum auf. Sein Weg kreuzt sich mehrfach mit dem einer Russin, die auf der Flucht vor einer Vernunftehe St. Petersburg ansteuert. Gemeinsam verleben sie bei einem Wanderzirkus paradiesische Tage. Das zeitgemäße Road Movie, das sich gegen Ende der Sage von Orpheus und Eurydike annähert, gewinnt vor allem durch die Farbdramaturgie einen eigenwilligen Reiz. Auch schauspielerisch überzeugend, verliert der Film ausgerechnet in jenen Szenen an Glaubwürdigkeit, in denen die Kunst des Sängers verzaubern soll. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
HONEY BABY
Produktionsland
Finnland/Deutschland/Lettland/Russland
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Eho Filma/Marianna Films/Slovo/Stamina Films
Regie
Mika Kaurismäki
Buch
Eike Goreczka · Mika Kaurismäki · Ulrich Meyszies
Kamera
Timo Salminen
Musik
Uwe Dresch · Andreas Schillling
Schnitt
Karen Harley · Mika Kaurismäki
Darsteller
Henry Thomas (Tom Brackett) · Irina Björklund (Natasha) · Helmut Berger (Karl) · Bela B. Felsenheimer (Martin) · Kari Väänänen (der Große Enrico)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Liebesfilm | Road Movie
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
„Honey Baby“ ist ein schöner Liebesfilm mit einem banal klingenden Titel. „Vom Suchen und Finden der Liebe“ wäre eleganter und treffender gewesen, aber so heißt ja schon ein Film von Helmut Dietl (fd 36 883). Mika Kaurismäki bezieht sich wie Dietl auf den Mythos von Orpheus und Eurydike. Nach früheren Adaptionen, „Orphée“ (22 613) von Jean Cocteau und „Orfeu Negro“ (fd 8472) von Marcel Camus, scheint der Stoff zur Zeit wieder eine besondere Anziehungskraft auszuüben. Schließlich fasst dieser Mythos existenzielle Fragen zusammen, beschwört die verbindende Kraft der Musik, die Einsamkeit des Künstlers, die Unfassbarkeit eines geliebten Menschen. Im Kern geht es hier wie dort um das Überschreiten von Grenzen. Auf der konkreten Ebene sind das bei Kaurismäki Ländergrenzen, denn von Deutschland aus treibt es die modernen Liebenden weit hinauf in den Norden Europas. Aber die Reise geht auch ins Niemandsland des Imaginären, (fast) ins Totenreich: Ein junger Musiker verliert seine Geliebte, trauert, macht sich auf die Suche, wagt sich in den „Hades“. Und verliert seine „Eurydike“ abermals. Allerdings ahnt der unvorbereitete Zuschauer anfangs keineswegs den mythischen Urgrund, aus dem sich die Filmhandlung speist. Kaurismäkis alles andere als altmodisches Road Movie wird erst zum traumverlorenen Ende mit der Sage verbunden. Sehr diesseitig nimmt sie ihren Ausgang in der mitteldeutschen Stadt Halle. Dort wird Tom von seiner Freundin vor die Tür gesetzt, ein in der Provinz gestrandeter US-Cowboy, der nun mit seinem verbeulten Renault als singender Alleinunterhalter zu einer Tour ins Baltikum aufbricht. Innerlich ist Tom festgefahren. Noch kennt er Natascha nicht. Die Russin steht kurz vor einer Vernunftehe, hangelt sich jedoch aus dem Toilettenfenster des Hallenser Standesamts, rafft ihr Hochzeitskleid und rennt los. Ihr Ziel: heim nach Sankt Petersburg. Mehrmals kreuzen sich die Pfade der frischgebackenen Singles auf eher unangenehme Weise. In Kaliningrad tun sich Tom und Natascha schließlich zusammen. Während Tom nach geplatzter Tournee in der Luft hängt und auf der Gitarre nur noch den Blues anstimmt, wird Natascha zur treibenden Kraft ihrer aufkeimenden Liebe. Tom muss dieser Frau einfach folgen. Über Petersburg hinaus bis nach Murmansk. Auf der Flucht vor den Häschern des Beinahe-Ehemanns wird mehrmals das Gefährt gewechselt. Toms himmelblauen PKW lässt man an einer Schranke zurück und springt in einen Güterwaggon. Ein in die Jahre gekommenes Motorrad mit Beiwagen sowie eine Pferdekutsche führen das Paar immer tiefer in den Norden, in immer ärmlichere Gegenden, ins Gauklermärchenhafte und Mythische hinein. Der Schlange, die Eurydikes Schicksal besiegelte, muss sich Natascha in Gestalt einer Python stellen, mit der sie als Zirkusprinzessin einer Wandertruppe tanzt. Mit dem fahrenden Volk erleben Tom und Natascha paradiesische Tage. Allerdings wird die Schlange zur Würgerin – in Nataschas Albträumen. Die Frau ist die Gejagte und zugleich die von inneren Dämonen Getriebene. Mit schlafwandlerischer Sicherheit malt die ätherisch-blonde Irina Björklund jede Regung ihrer Figur aus, wirkt aber nie äußerlich und ist bis zuletzt die ungreifbar Rätselhafte. Natascha scheint nie zu wissen, ob sie sich hingeben oder weglaufen soll. In Sankt Petersburg verschwindet sie von der Bildfläche. Ihr Partner Henry Thomas erstarrt als verlassener „Orpheus“ zunehmend. Stark sind die stummen Szenen, wenn Tom ziellos in der russischen Metropole umherstreift. Als Bühnentier in der Krise überzeugt der Ex-Kinderstar („E.T. – Der Außerirdische“, fd 23 743), rein sängerisch-musikalisch nimmt er, der einige Songs für „Honey Baby“ schrieb, jedoch weniger für sich ein. Aber die Orpheus-Idee des seine Umwelt verzaubernden Sängers behandelt Kaurismäki ohnehin mit Ironie. Aus Wut über Natascha singt und klampft Tom bei seinem letzten Tourneeauftritt so fürchterlich, dass man sich über den frenetischen Applaus des lettischen Dorfpublikums nur wundern kann. Das eigentliche Wunder von „Honey Baby“ ist die geradezu phosphorhafte Farbfotografie. Kameramann Timo Salminen füllt das Cinemascope-Bild zunächst mit lebenssatten Primärfarben, bevor der orange Innenanstrich billiger Kneipen, das Grasgrün Russlands, das Blau des Meeres, die Regenbogenfarben von Nataschas Pullover im tödlichen Weiß der sibirischen Schneewüste verklingen. Orpheus’ Weg in das Totenreich übersetzt der Film in eine Fahrt jenseits der Polargrenze. Nach langer Suche findet Tom die Geliebte in einem Murmansker Nachtclub namens „Hades“ wieder. Dort scheitert nicht nur Tom (wie zuvor die Sagengestalt), dort scheitert auch Mika Kaurismäki. Denn er schaltet jäh um auf einen eher kalauernden Bezug zum Orpheus-Mythos. So lässt er einen aktualisierten Charon, einen Cerberus und selbst den Unterweltgott Pluto Revue passieren. Laut schrillt die mythologische Motivklingel. Die zarte Naht der Anspielungen, die Lovestory und Sage verbunden hat, zerreißt, und die Operation Orpheus misslingt. Der Manierismus kurz vor der Zielgeraden: Kaurismäkis einziger und sein entscheidender Fehler.
Kommentar verfassen

Kommentieren