Drama | Österreich/Frankreich/Deutschland/Italien 2005 | 119 Minuten

Regie: Michael Haneke

Ein Pariser Intellektuellen-Paar fühlt sich durch anonyme Videokassetten mit Aufnahmen seiner Wohnung bedroht. Diese Ausgangssituation entwickelt Michael Haneke zu einem beklemmend dichten Drama, in dem er in gewohnt spröder, sehr konzentrierter Manier das Publikum in die Rolle des Fährtenlesers zwingt, das parallel zu den Figuren, aber auch im kritischen Abstand die sparsam ausgestreuten Hinweise entschlüsseln soll. Spannend daran ist weniger die psychologische Ebene als die überraschend bittere Anklage der intellektuellen Führungsschicht, die sich im Wald der Zeichen und Bedeutungen verloren hat und sich, ohne Zugang zum Körper oder zu den Gefühlen, nicht mehr der Realität stellt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CACHÉ
Produktionsland
Österreich/Frankreich/Deutschland/Italien
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Wega/Bavaria/Les Films du Losagne/BIM Distribuzione
Regie
Michael Haneke
Buch
Michael Haneke
Kamera
Christian Berger
Schnitt
Nadine Muse · Michael Hudecek
Darsteller
Juliette Binoche (Anne Laurent) · Daniel Auteuil (Georges Laurent) · Annie Girardot (Georges Mutter) · Maurice Bénichou (Majid) · Lester Makedonsky (Pierrot Laurent)
Länge
119 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Eurovideo (16:9, 1.78:1, DD5.1 frz./dt.)
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Diskussion
Das starre Bild färbt die Leinwand zu einem bunten Blatt Papier. Es zeigt einen Hauseingang, vor dem zwei kleine Straßen aufeinandertreffen, parkende Autos, alte, gut erhaltene Häuser. Ein kleiner Ausschnitt aus einem idyllischen Wohnviertel der Pariser Altstadt. Buchstabe für Buchstabe entfaltet sich darauf der Vorspann von „Caché“. Das Bild steht, obwohl es kein Standbild ist. Ein junger Mann durchquert es mit schnellen Schritten, ein Fahrradfahrer fährt vorüber. Kein unüblicher Filmeinstieg, auch wenn sich Michael Haneke außergewöhnlich viel Zeit lässt. Der Moment aber, in dem sich die Szenerie belebt und der Film mit seinen Darstellern beginnt, bleibt aus. Stattdessen drängen sich Stimmen aus dem Off in den Vordergrund, das Bild wird unvermittelt vorgespult und fällt in sich zusammen. Es ist ein Bild im Bild, oder besser, vor dem Bild. Der nächste Umschnitt entlarvt die Videoaufzeichnung, die sich dahinter verbirgt, zeigt den Fernseher und den Recorder, in dem es abgespielt wird. Mit dieser Eingangssequenz ist bereits die Grundbewegung von „Caché“ vorgegeben. Haneke, der erneut auch das Drehbuch verfasste, sucht darin nach der Wahrheit hinter dem Bild. Seine Hauptfigur Georges Laurent ist ein angesehener Fernsehmoderator, Kopf der französischen Variante des „Literarischen Quartetts“, also geübt, Texte zu deuten. Aber gerade mit dieser Strategie stößt er an Grenzen. Es führt nicht weiter, die Aufnahmen von seinem Haus zu interpretieren, die ihm auf einer Videokassette anonym zugeschickt wurden. Georges muss sie dekonstruieren, ihren Entstehungsprozess offen legen. Das setzt eine metamediale, detektivische Suche in Gang, die in vielem an David Lynchs „Lost Highway“ (fd 32 459) erinnert. Doch dort, wo sich bei Lynch die Spur ins Ungewisse verflüchtigt, liefert Haneke ganz konkrete Anhaltspunkte. Zwar bleibt auch bei „Caché“ über das Ende hinaus unklar, wer wirklich hinter den sich mehrenden anonymen Botschaften und Anrufen steckt; die Spuren führen aber weder ins Mystische noch in ein Spiegelkabinett der Identitäten, sondern zu einer realen, verdrängten Vergangenheit. Den Videobotschaften sind einfache Bilder beigefügt, wie von Kinderhand gezeichnet: ein Junge, dem eine überlange rote Zunge aus dem Mund hängt; ein blutender Vogel. In sekundenkurzen Flashs verwandeln sich diese Zeichnungen vor Georges’ geistigem Auge in Erinnerungsbilder: ein Junge, der Blut spuckt; ein Junge, der mit der Axt einen Hahn köpft. Grausame, schändliche Bilder, die aus dem Unterbewussten auftauchen und in Georges einen Verdacht nähren, der sich erhärtet, als auf einer der Kassetten das Landhaus zu sehen ist, in dem Georges aufwuchs. Seine Frau Anne weiht er nicht in sein Geheimnis ein. Zwischen beiden herrscht eine permanent gereizte Atmosphäre. Seit sie sich von einem Unbekannten beobachtet und bedroht fühlen, treten die bislang vielleicht vom bildungsbürgerlichen Alltag überwucherten Gräben zwischen ihnen offensichtlicher zu Tage. Sie berühren sich kaum. Selbst als Georges gegen Ende verzweifelt nach Trost sucht, legt ihm Anne nur linkisch die Hand auf die Schulter, den Körper schon zum Gehen abgewandt. Zwar sprechen sie regelmäßig miteinander, aber sie tauschen sich nicht aus, reden aneinander vorbei. Vor allem Georges weicht seiner Frau aus, er belügt sie oder belässt es bei Andeutungen. Er versucht alleine herauszufinden, wer hinter dem anonymen Terror steckt. Die Polizei unternimmt nichts, solange keine Straftat vorliegt, und Annes Hilfe weist er zurück. Isoliert und einsam wirken die Protagonisten, sind durch unsichtbare und vor allem unausgesprochene Barrieren voneinander getrennt. Misstrauen unterhöhlt das oberflächlich intakte zwischenmenschliche Gefüge; zwischen Mann und Frau ebenso wie zwischen den Eltern und ihrem pubertierenden Sohn. Gespräche umschiffen emotionale Klippen, ohne sie zu überwinden. Das alles geschieht keineswegs mit Paukenschlägen. Es gibt zwar Schockbilder, aber sie fallen jäh aus dem Rahmen. Die Entfremdung zwischen den Menschen äußert sich subtil, eingebettet in einen spannenden Psychothriller. Es sind die kleinen Gesten, Zwischentöne und Augenblicke, mit denen das hervorragende Ensemble wie beiläufig die hinter den geordneten Fassaden lauernden Abgründe durchscheinen lässt. Daniel Auteuil hat für seine Darstellung des sich selbstverleugnenden Georges den Europäischen Filmpreis erhalten, Juliette Binoche hätte ihn für ihre Rolle der „entliebten“ Anne ebenso verdient. Die versteckten familiären „Vergletscherungen“, wie Haneke formulieren würde, beschreiben das Bild hinter dem Bild jedoch nur unvollständig. Die gesuchte Wahrheit liegt noch eine Symbolebene tiefer. Es ist kein Zufall, dass Georges an einer Stelle des Films mit einem Schwarzen aneinander gerät. Ebenso wenig zufällig endet die Spur, die in Georges’ Kindheit führt, ausgerechnet bei Majid, jenem Jungen, den Georges’ Eltern adoptiert hatten, nachdem Majid über Nacht Waise geworden war. Majids Eltern hatten für die Laurents gearbeitet. Georges, damals gerade sechs Jahre alt, war eifersüchtig auf den erzwungenen Bruder, denunzierte ihn und trieb ihn damit aus dem Haus. In einem Nebensatz fällt eine für das Verständnis des Films richtungsweisende Bemerkung: Majids algerischstämmige Eltern waren im Oktober 1961 beim Massaker von Paris von Polizisten ermordet und in die Seine geworfen worden. Das Massaker, das erst 1998 durch einen Artikel in „Le Monde“ dem Verleugnen entrissen wurde, ist noch immer eines der am meisten tabuisierten Ereignisse der französischen Geschichte. Der verborgene Riss, den „Caché“ gnadenlos präzise und einfühlsam zugleich umschreibt, durchzieht die heutige französische Gesellschaft. Dennoch endet Hanekes faszinierend vielschichtiger Film nicht etwa mit Aufnahmen brennender Vorstädte, sondern das Schlussbild rückt eine Schule mit lächelnden Kindern unterschiedlicher Kulturen ins Blickzentrum und damit eine Hoffnung auf Zukunft – oder, falls es sich erneut um eine versteckte Aufnahme handelt, eine weitere Bedrohung.
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