Ein ganz gewöhnlicher Jude

- | Deutschland 2005 | 93 Minuten

Regie: Oliver Hirschbiegel

Der fiktive Monolog eines deutschen Juden, der die meisten seiner Verwandten in Theresienstadt verlor und vom Geschichtslehrer eines Hamburger Gymnasiums gebeten wird, über sein Leben in Deutschland zu sprechen. Das Ein-Personen-Stück rechnet mit der permanenten Auseinandersetzung über das vermeintliche Anderssein ab und thematisiert sowohl die Rolle des ewigen Opfers als auch die des nahezu pathologischen Gutmenschen. Ein recht textlastiger, gleichwohl mutiger Film über die deutsche Geschichte und ihre Nachwirkungen, der nicht nur Binnenschau hält, sondern sich auch mit den Defiziten der Außenwelt auseinander setzt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Multimedia/NDR
Regie
Oliver Hirschbiegel
Buch
Charles Lewinsky
Kamera
Carl-Friedrich Koschnick
Schnitt
Hans Funck
Darsteller
Ben Becker
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Heimkino

Verleih DVD
Eurovideo (16:9, 1.78:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Es ist immer wieder das Diktiergerät, das die Kamera einfängt. Das Diktiergerät eines Journalisten, der sich zur Selbstbefragung gezwungen sieht. Und die Fotografien von Hannah Arendt und Einstein, oder die vielen alten Bilder der Onkel und Tanten, von denen nicht wenige in Theresienstadt oder Auschwitz umgekommen sind. Sonst bietet die Requisite nicht viel. Das Innere einer weitläufigen Wohnung, ausgestattet mit Bücherregalen, Designer-Möbeln und dem Arbeitsplatz eines Zeitgenossen, der mit Schreiben sein Auskommen verdient. Ben Becker spielt den Journalisten Emanuel Goldfarb, der von einem Geschichtslehrer schriftlich gebeten wird, vor einer Schulklasse am Hamburger Kurt-Tucholsky-Gymnasium über sich und sein Leben in Deutschland zu sprechen. Der Grund für die Einladung ist weder sein Beruf noch der Umstand, dass er 1959 in Deutschland geboren wurde und in Hamburg lebt. Es ist seine jüdische Herkunft und überdies die Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde. Goldfarb fühlt sich in der Sonderrolle des exotischen Anschauungsobjekts deplatziert, er „habe kein Talent, öffentlich Ich zu sein“, außerdem gäbe es ohne den Schulterschluss zwischen Antisemiten und Philosemiten die Juden nicht mehr, die sie ständig an ihr Anderssein erinnern. Den zwar gut gemeinten, aber übertrieben rücksichtsvollen Ton der Einladung empfindet er als Provokation eines typischen Gutmenschen mit 68er-Sozialisation, der sich selbst beweisen will, dass er keine Berührungsängste hat. „Ich möchte aber nicht erlitten werden, nicht gelitten und nicht geduldet. Die permanente Solidarität geht mir auf die Nerven. Ich weiß ja, dass es gut tut, ein guter Mensch zu sein, aber zieht mich da nicht rein! Ich will die Sonderrolle nicht haben. Nicht im Schlechten und nicht im Guten. Ein ganz gewöhnlicher Mensch möchte ich sein. Ein ganz gewöhnlicher Jude.“ Aus anklagenden Wortkaskaden solcher Art besteht im weiteren Verlauf der ganze Film, der in seiner Machart an vorangegangene Solostücke wie „Mein letzter Film“ (fd 35 702) mit Hannelore Elsner oder „Der Totmacher“ (fd 31 645) mit Götz George erinnert. Von Oliver Hirschbiegel, der in seinem Kassenerfolg „Der Untergang“ (fd 36 679) keinen noch so manierierten Bombast scheute, hätte man so viel Sinn für die Vorzüge inszenatorischer, an das Theater angelehnter Reduktion nicht gerade erwartet. Goldfarb entschließt sich in seiner Wut und Verbitterung zum Gegenangriff und begegnet der Aufforderung zur Rechtfertigung seiner Existenz in Deutschland mit der Verfassung einer Absage, die zur Bilanz seines Lebens mutiert. Aufgewühlt diktiert er sich selbst all dies, was er den Schülern nicht zu erklären vermag, arbeitet das Verbindende der gemeinsamen Geschichte und die vielen Brüche heraus. Er erzählt von der fast kindlichen Anhänglichkeit seiner Eltern zu Deutschland, die sie sich trotz Emigration und Deportation in Konzentrationslager erhalten haben. Von ihrem schwierigen Neuanfang zwischen Verfolgungswahn und Selbsthass, dem Druck alles richtig zu machen, um endlich angenommen zu werden. Seinen eigenen vergeblichen Versuchen, die jüdische Identität abzulegen und der Unmöglichkeit einer Ehe mit einer Nichtjüdin, die an Meinungsverschiedenheiten über die Beschneidung des Sohns scheiterte. Seine zeitweilige trotzige Flucht in die Orthodoxie kommentiert Goldfarb rückblickend lakonisch: „Bloß weil man vorwärts keinen Weg sieht, kommt man rückwärts auch nicht weiter.“ So erbarmungslos er sein notorisch gespaltenes, zwischen Selbstzweifeln und kämpferischer Anmaßung kriselndes Bewusstsein seziert, so beißend ist auch sein Blick auf die Verlogenheit der Außenwelt. Mit großer Lust an sarkastischer Überzeichnung wettert er gegen die spät entdeckte deutsche Judenfreundschaft ebenso wie gegen die Aneignung von Klezmer-Musik durch „Weltverbesserungsmusikanten“, die ihn selbstgerecht über die Menschenrechtsverletzungen in seiner „eigentlichen“ Heimat Israel belehren wollen. Die Vorlage für Ben Beckers furios vorgetragenen Monolog lieferte das gleichnamige Buch des Schweizers Charles Lewinsky, der auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Ohne dessen ins Mark gehende, geradlinige und zugleich komplexe Reflexionsschübe hätte das von Hirschbiegel gewählte statische Konzept eines Ein-Personen-Kammerspiels leicht ins Leere laufen können: Bis auf eine kurze Exposition und einen fast anrührend komischen Schluss inmitten einer ratlosen Schülerschar fehlt der im Kino übliche Erzählungsbogen gänzlich. Tag und Nacht, unterbrochen von Straßengeräuschen, schaut man Goldfarb über 90 Minuten gleichermaßen erstaunt wie fasziniert beim Sortieren seiner ketzerischen Gedanken, An- und Einsichten zur Lage des deutschjüdischen Verhältnisses zu, beobachtet ihn, wie er unruhig durch die unterkühlt eingerichtete Wohnung schreitet, hastig ein Glas Wein hinunterschüttet oder einen Espresso aufsetzt. Wohl kein Aspekt seiner Hass-Liebe zu Deutschland bleibt unerwähnt – von der Walser-Debatte bis hin zur aktuellen Situation in Israel, für die sich Goldfarb als deutscher Staatsbürger nicht zuständig fühlt. Zerrissen bleibt der Held dieses atemlosen Lamento bis zum letzten Satz, eine Normalität, die er sich im Innersten sehnsüchtig wünscht, gibt es für ihn nicht. Und doch scheint er einen Ballast abgeworfen zu haben, als er zum Schluss das fertige Manuskript seiner brisanten Abrechnung in den Händen hält. Sie zu verdauen, bleibt dem Zuschauer und vor allem dem aufmerksamen Zuhörer überlassen.
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