- | Kanada/Großbritannien/USA 2005 | 108 Minuten

Regie: Atom Egoyan

Zwei erfolgreiche Stand-up-Komödianten mit eigener Fernsehshow trennen sich unter rätselhaften Umständen. Diese stehen in Zusammenhang mit einer Nacht, in der ein verhängnisvolles Zusammenspiel von Sex und Crime zum Tod einer Frau führte. Erst Jahre später kommt eine Journalistin den wahren Zusammenhängen auf die Spur. Die retrospektiv erzählte Mischung aus Film noir und 1950er-Jahre-Melodram ist als faszinierendes Spiel mit Chiffren und Symbolen konzipiert, das, inszenatorisch perfekt, auf höchst vergnügliche Weise den Widerspruch zwischen Schein und Sein demonstriert. Dabei offenbaren die atemberaubenden Bilder die erschreckende Kälte einer Welt aus Künstlichkeit. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
WHERE THE TRUTH LIES
Produktionsland
Kanada/Großbritannien/USA
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Serendipity Point Films/Ego Film Arts/First Choice Films/Movie Central Network/TMN/Téléfilm Canada
Regie
Atom Egoyan
Buch
Atom Egoyan
Kamera
Paul Sarossy
Musik
Mychael Danna
Schnitt
Susan Shipton
Darsteller
Kevin Bacon (Lanny Morris) · Colin Firth (Vince Collins) · Alison Lohman (Karen O'Connor) · Rachel Blanchard (Maureen) · David Hayman (Reuben)
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen.

Verleih DVD
Concorde/Eurovideo (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt., dts dt.)
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Diskussion
Die Show ist verlogen. Man sieht es den Gesichtern von Lanny und Vince an, Sekunden bevor sie auf die Bühne treten und ihr routiniertes Lächeln aufsetzen: Sie sind am Ende. Aber noch einmal müssen sie ins Rampenlicht, bevor das Komiker-Duo sich endgültig trennt. Wenige Minuten zuvor hatte der neue Film von Atom Egoyan, dessen doppelbödiger Titel „Where the Truth Lies“ („Wo die Wahrheit lügt“/„Wo die Wahrheit liegt“) in der deutschen Version mal wieder mehr als nötig vereinfacht wurde, mit einer Kamerafahrt begonnen. Sanft, geradezu zärtlich streicht die Kamera durch eine luxuriöse Hotelsuite. Sie tastet über die dunkelbraunen Möbel, blickt durch die Räume und bleibt im Badezimmer an der Wanne hängen. Über dem Titel sieht man darin den nackten Körper einer toten Frau liegen. Aber auch Bilder können lügen. Erstmals hat Egoyan einen Kostümfilm gedreht. Seit „Exotica“ (fd 31 113) und „Das süße Jenseits“ (fd 33 033) ist Egoyan ein Meister von Stoffen, die auf komplexe Weise um Fragen des Gedächtnisses und der Erinnerung kreisen, um die Wiedergewinnung der Vergangenheit und um das Weiterleben nach einem Verlust. Doch auch die Zeitreise in die Goldene Zeit der Fernsehunterhaltung zwischen den späten 1950er- und den frühen 1970er-Jahren ändert nichts daran, dass der neue Film wieder ein typischer Egoyan-Film ist, in dem sich die unterschiedlichen Erzählebenen und Zeitsprünge so labyrinthisch verschachteln und hinreißend unübersichtlich ineinander schieben wie Herkunft und Familiengeschichte des von ägyptischen Armeniern abstammenden Kanadiers. Und einmal mehr erzählt Egoyan seine Geschichte retrospektiv, von ihrem Ende her. Identität und die Frage, was die Wahrheit eines Lebens ausmacht, sind Egoyans große Themen. Diesmal geht es um das Geheimnis hinter der Karriere und der überraschenden Trennung des erfolgreichen Duos von Stand-up-Comedians. Vorbild für Lanny und Vince sind offensichtlich die gemeinsamen Auftritte von Dean Martin und Jerry Lewis, die zuerst in Nachtclubs, dann in Radioshows und bis zu ihrer abrupten Trennung 1956 im Fernsehen auftraten. Schon Egoyans Vorlage, Rupert Holmes’ 2003 veröffentlichte Kriminalgeschichte, spielt mit dem Bezug zu den realen Vorbildern und den Subtexten ihrer Auftritte. Denn wie die Bühnenfiguren Martin und Lewis kann man auch Lanny und Vince als eine gemeinsame, in zwei öffentliche „Personas“ gespaltene Persönlichkeit begreifen: eine freudianische Zweiteilung aus gesittet-höflichem, rational-zivilisiertem Ich und aggressiv-impulsivem Es, das geheime Wünsche und Ängste, die dunkle Seiten des Ichs, zur Sprache bringt – eine Comedy-Kombination, die offenbar ins Herz der Nachkriegs-Ära traf. Egoyan bringt die Dynamik dieser Facette des klassischen Hollywood auf die Leinwand. Vince und Lanny (hervorragend und schrecklich abgründig gespielt von Kevin Bacon und Colin Firth) entpuppen sich als Zyniker voller Brutalität, innerlich leer und doch zugleich tiefer verwundet, als zunächst zu ahnen ist. „Having to be a nice guy is the toughest thing in the world if you’re not“, weiß Lanny. Ihre Show war schon lange reine Fassade; hinter den Kulissen gab es nur drei Formen von Beziehungen zu Fans: Sie schliefen mit ihnen, schlugen sie zusammen und beuteten sie in jedem Fall aus. Irgendwann fand man die nackte Leiche einer jungen Frau in ihrer Hotelsuite. Doch die beiden schienen mit der Leiche nichts zu tun zu haben. Die Wahrheit liegt freilich hinter den Spiegeln: Wie einst Alice durch das Kaninchenloch reist eine junge Journalistin Jahre später ins Wunderland des Showbusiness, entdeckt dabei allerlei merkwürdige Kreaturen und kommt schließlich dem Geschehen in jener verhängnisvollen Nacht auf die Spur, wobei sie Sex und Crime entdeckt, Verführung und Gewalt, die unter der Oberfläche des Showbiz liegen. „Wahre Lügen“ ist eine Detektivgeschichte zwischen Sein und Schein, verrätselt und kaleidoskopisch wie John Hustons „Die Spur des Falken“ (fd 25 311). Die Geschichte erinnert in vielem an den Film noir, doch zugleich ist sie weniger kühl und reduziert, sondern lebt vom nostalgischen „Bigger than Life“-Touch eines Melodrams aus den späten 1950ern. Es ist eine doppelt künstliche Welt, die Egoyan entwirft; nicht allein deshalb, weil es sich um Showkünstler handelt, sondern auch, weil die handelnden Personen mindestens ebenso sehr als künstliche Figuren wie auch als reale Charaktere erscheinen. Kein Zufall, dass sich die Journalistin und die Frau in der Badewanne nicht nur äußerlich ähneln, sondern auch ihr Nachname eine gewisse Ähnlichkeit suggeriert: O‘Connor und O‘Flaherty. „Wahre Lügen“ ist vor allem ein Spiel mit Bild-Erinnerungen. In seiner Präzision und seinem Glamour nur mit David Lynchs „Mulholland Drive“ (fd 35 220) vergleichbar, bringt Egoyan alte Kino-Atmosphären wieder zum Leben, lässt Licht, Farben und Bewegungen wiedererstehen und webt ein Pastiche-Tableau aus Technicolor und eigenen Erinnerungen, das sich mit denen des Zuschauers verknüpft. Irritierend unwirklich, wie eine Kulisse aus Symbolen und Gedanken, wie ein Reich der Zeichen, sind beide Zeitebenen, in denen der Film spielt, gestaltet. Erinnert die Erzählform auch an die bekannte Struktur aus „Rashomon“ (fd 1875) – die gleiche Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt und ändert ein ums andere Mal ihre Gestalt –, sind es doch drei andere Filme, die sich als Referenz aufdrängen: Auf „Citizen Kane“ (fd 10 261) wird in Form eines geheimnisvollen Manuskripts, das die Journalistin nur unter bestimmten Bedingungen lesen darf, offen angespielt. Eher visuell und atmosphärisch sind die Bezüge zu „Vertigo“ (fd 7835) und „Chinatown“ (fd 19 120). Wie durch eine Brille scheint Egoyan auf die jeweiligen Epochen – die späten 1950er- und frühen 1970er-Jahre – zu blicken. Das ist höchst vergnüglich und handwerklich perfekt inszeniert. Am Ende scheint es sogar so etwas wie Erlösung zu geben. Doch um Aufklärung im herkömmlichen Sinn einer Trost spendenden Enthüllung von Wahrheit geht es trotzdem nicht. Egoyan bricht zwar nicht mit dem Genremuster der Überführung des Täters, doch zeigt er, dass es nicht viel hilft, wenn am Ende der Mörder gefunden ist. Sein Thema ist weniger die Antwort auf die Frage, wo die Wahrheit liegt, als vielmehr eine Betrachtung über die Schmerzen, die auf die Aufdeckung der Wahrheit folgen können. Was an Egoyan überdies bezwingt, ist der Umstand, dass er wie sein Landsmann David Cronenberg jenen das Hollywood-Kino dominierenden puritanischen Konsens aus Gewaltlust und Sex-Tabu durchbricht, während er mit ihm spielt. Dieser Konsens, der sogar noch Wagnisse wie „Sin City“ (fd 37 169) prägt, erlaubt jede Form der Gewaltdarstellung, während Sex verboten und sogar der Busen der Hauptdarstellerin ein Tabu ist. Bei Egoyan ist auch dies doppelbödiger; wie alle seine Filme steht auch „Wahre Lügen“ dem Puritanismus eines Kunstwillens fern, der „Konzentration“ einfordert und alles vermeintlich Voyeuristische als Ablenkung vom ästhetischen Gottesdienst begreift. Seine atemberaubend irrlichternden Bilder lassen nicht kalt, auch wenn die Welt dadurch noch ungeheurer wird.
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