Familia Rodante - Reisen auf argentinisch

Tragikomödie | Argentinien/Brasilien/Frankreich/Deutschland/Spanien/Großbritannien 2004 | 103 Minuten

Regie: Pablo Trapero

Eine argentinische Großfamilie macht sich mit einem klapprigen Wohnmobil auf eine 1500 Kilometer lange Reise an die brasilianische Grenze, um an einer Hochzeit teilzunehmen. Die Fahrt geht durch unterschiedliche Vegetations- und Mentalitätszonen quer durchs Land und konfrontiert die Familienmitglieder mit Verwicklungen und Konflikten, bei denen uneingestandene Sehnsüchte an die Oberfläche drängen. Eine vielstimmig inszenierte Tragikomödie, die durch exzellente Schauspielführung und die flexible Kamera überzeugt. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
FAMILIA RODANTE | VOYAGE EN FAMILLE
Produktionsland
Argentinien/Brasilien/Frankreich/Deutschland/Spanien/Großbritannien
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Lumina Films/Paradis Films/Pandora/Videofilmes Prod. Artisticas/Axiom Films/Buena Onda/Matanza Cine/Pol-Ka
Regie
Pablo Trapero
Buch
Pablo Trapero
Kamera
Guillermo Nieto
Musik
Hugo Diaz · León Gieco · Juaujo Soza
Schnitt
Ezequiel Borenstein · Nicolás Goldbart
Darsteller
Liliana Capurro (Marta) · Graciana Chironi (Emilia) · Ruth Dobel (Claudia) · Federico Esquerro (Claudio) · Bernardo Forteza (Oscar)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Tragikomödie
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IMDb | TMDB

Diskussion
Eine alte Frau schaut nachdenklich ins Dunkle: Emilia, die Großmutter. Sie sitzt auf ihrem Bett in Buenos Aires; ein Tango ertönt. Ein Wellensittich blickt neugierig durch die Gitterstäbe. Schon ganz am Anfang besticht „Familia Rodante“ durch eine detailverliebte, fast dokumentarische Kameraführung, die den Ablauf der Geschichte im lebhaften Wechsel von Großaufnahmen und schnellen beweglichen Landschaftstotalen vermittelt. Emilia lebt in Buenos Aires mit ihren Katzen und Pflanzen, den gleichaltrigen Nachbarinnen und ihrer großen Familie: Töchtern, Schwiegersöhnen, Enkel- und Urenkelkindern. Emilia weiß, dass ihr nicht mehr viel Lebenszeit bleibt. Während der Feier zu ihrem 84. Geburtstag verliert sie das Bewusstsein. An diesem Tag erhält sie auch den Anruf ihrer weit entfernten jüngeren Schwester. Deren Tochter, ihre Nichte, möchte die resolute Großtante als Trauzeugin. „Wir fahren, und zwar mit der ganzen Familie!“, entscheidet die alte Dame, freundlich, aber unabänderlich. Der übergewichtige Sohn Oscar holt das alte Wohnmobil – die „casa rodante“, das Haus auf Rädern – aus der Garage, einen Chevy Viking, Baujahr 1956. In dem historischen Fahrzeug muss die zwölfköpfige Familie 1500 Kilometer bis an die brasilianische Grenze in den tropischen Norden Argentiniens zurücklegen – 80 Kilometer pro Stunde und 20 Liter Benzin pro hundert Kilometer. „Fliegen wäre billiger gewesen“, nörgelt Oscars Schwager. „Familia Rodante“ ist ein Road Movie der besonderen Art: eine Reise durch die unterschiedlichen Provinzen Argentiniens, ein skurriles Zusammentreffen mit den Gouchos im Geburtsort des Nationalhelden der argentinischen Unabhängigkeit, San Martin, das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Mentalitäten. Immer wieder enthüllt der Film seine Liebe zum ethnografischen Detail: die reitenden Gouchos, die Hochzeit auf dem Land. Gleichzeitig ist „Familia Rodante“ eine stilistische Erneuerung des alten Subgenres der Großfamilienkomödie, der tragikomischen Bilderbögen, die besonders von Interaktionen und Missverständnissen zwischen den Generationen, von Liebesgeschichten und Verwickelungen des Heranwachsens leben. Der Film wird dabei aber nie zum sentimental-folkloristischen Familienkitsch, wie er z.B. aus argentinischen Fernsehserien nach italienischem Vorbild bekannt ist; Regisseur Pablo Trapero schafft wie in seinen früheren Filmen auch hier einen Mikrokosmos, allerdings auf humorvolle, warmherzige Art. Das Wohnmobil wird zum Raum, in dem Eifersucht, junge Liebe und alte Enttäuschungen, Geheimnisse, Lügen und nicht eingestandenen Sehnsüchte aufeinander prallen. Fast beiläufig wird der Zuschauer über die Gespräche zum Komplizen der Familiengeschichten. Paola, Emilias Enkelin, hat sich wieder einmal von ihrem Freund getrennt und schaukelt ihr Baby im Wohnmobil. Während ihr Vater Oscar nur darauf brennt, den verhassten Freund seiner Tochter, der auch der Kindsvater ist, zusammenzuschlagen, will Enrico, Emilias Schwiegersohn, an eine alte Romanze mit seiner Schwägerin, Oscars Frau, anknüpfen. Trapero widmete den sehr persönlichen Film seiner eigenen „Familie auf Rädern“; seine Großmutter Graciana Chironi gibt eine faszinierende Hauptdarstellerin. Auch sonst sind die zwölf Hauptfiguren überwiegend Laiendarsteller. Zum ersten Mal ist dem Regisseur von „Mundo Grua“ und „El Bonarense“ eine ähnlich chorale, vielstimmige Inszenierung gelungen, wie sie die Filme seiner Kollegin Lucrezia Martell auszeichnet. Neben der Schauspielführung beeindruckt die flexible Kamera, die ganz eng an den Darstellern bleibt und ihre Spannungen ebenso auffängt wie den landschaftlichen und klimatischen Wandel im Laufe der Reise. „Familia Rodante“ ist ein optimistischer Film, das Porträt einer Familie, deren Dynamik gerade in den Widersprüchen, Differenzen und den verschiedenen Lebensformen lebt. Er ist aber auch ein melancholischer Film über den Lauf der Zeit, den Fluss des Lebens, die (fast) unvermeidliche Desillusionierung. Und ein Film über die Suche nach den Wurzeln. Am Ende bleibt Emilia bei ihrer Schwester im Heimatdorf, und man ist wieder allein mit der alten Frau: Jetzt schaut sie nachdenklich über die Berge und Wälder ihrer Heimat. Vor dem Hintergrund einer der größten Krisen des Landes ist „Familia Rodante“ ein Loblied auf die Solidarität der Großfamilie als Überlebensstrategie, jenseits ranzig reaktionärer Heuchelei, und gleichzeitig ein frisches, vielschichtiges und unprätentiöses Bild des modernen Argentinien.
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