Drama | Deutschland 2005 | 104 Minuten

Regie: Florian Hoffmeister

Fünf Jahre nach seinem Verschwinden während eines Spanien-Urlaubs kehrt ein Mann in seine Heimatstadt in der süddeutschen Provinz zurück. Während er teilnahmslos die sozialen wie menschlichen Veränderungen in seiner Familie und seinem Bekanntenkreis registriert, müssen die Menschen auf ihn reagieren. Weitgehend nüchterne Versuchsanordnung um Menschen, die sich in unverbindlichen Lebensentwürfen eingerichtet haben. Glänzend gespielt, entwickelt sich der stille Film zur Studie einer umfassenden Entfremdung. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
blue eyes Fiction/sabotage films/BR
Regie
Florian Hoffmeister
Buch
Mona Kino · Florian Hoffmeister
Kamera
Busso von Müller
Musik
Adrian Corker · John Conboy
Schnitt
Susanne Hartmann
Darsteller
Bibiana Beglau (Marie) · Sebastian Blomberg (Jan) · Johann von Bülow (Frank) · Meret Becker (Jenny) · Alexander Beyer (Steini)
Länge
104 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
absolut Medien (16:9/Dolby Digital 5.1)
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Diskussion
Die Idee ist nicht neu: Bereits Tom Sawyer erfüllte sich einst einen allzu verführerischen Traum, als er – nach seinem inszenierten „Tod durch Ertrinken“ – des Nachts heimlich zu Tante Polly schlich, um sie genüsslich bei ihrer Trauer um ihn zu beobachten. Vergleichbar, nur nicht in voyeuristisch-narzisstischer Absicht, sondern vielmehr naiv, handelt der Mittdreißiger Jan. Eines Tages verschwindet er während eines gemeinsamen Spanienurlaubs mit seinen Freunden und taucht erst fünf Jahre später unvermittelt wieder auf. Seine Clique und auch seine Familie haben nach einer Phase der Verstörung und Ratlosigkeit ihr Leben weiter gelebt, haben sich, wie die Exposition zeigt, auch auseinander gelebt. Jan hat eine schmerzhafte Lücke gelassen, doch „das Soziale“ erweist sich als hinreichend produktiv. Neue Beziehungen entstehen, andere kühlen ab, Jan wird (zumindest weitgehend) ersetzt, wird Erinnerung. Dennoch scheint das Leben in der süddeutschen Provinz – der Film wurde in einem grauen und regnerischen Nürnberg gedreht – nur langsam fortzuschreiten. „Fünf Jahre später“ reitet das Gespenst Jan in die Stadt wie der mythische „Pale Rider“ des Westerns. Seine schiere Präsenz ist ein Skandalon, funktioniert wie ein Lackmustest: Sein aufmerksamer Blick dient dazu, all die Lebenslügen, faulen Kompromisse und uneingestandenen Konflikte und Sehnsüchte seiner ehemaligen Freunde zu registrieren; zugleich – hier spielt die Zeitdimension der Dramaturgie eine wichtige Rolle – müssen sich die Figuren zu Jans Verschwinden und Wiederauftauchen verhalten, sie müssen gewissermaßen ihr Leben bilanzieren, obwohl sich Jan weitgehend aus allem heraus hält. Jans Ex-Freundin Marie ist mittlerweile mit Frank verheiratet, den seit Jans Verschwinden ein schlechtes Gewissen umtreibt, sich Maries Liebe vor Jahren durch Passivität im rechten Moment erschlichen zu haben. Auch Jans jüngerer Bruder Olli hat dessen Verschwinden genutzt, um seinen Rang innerhalb der Familienhierarchie neu zu definieren. Allerdings sind die Familienverhältnisse unter dem Flachdach des schicken 1970er-Jahre Bungalows mehr als prekär: Jans Mutter hat sich vor den Problemen in die Tablettensucht geflüchtet, der Vater wiederum stürzt sich routiniert in die Arbeit. Olli dagegen ist kaum noch zu Hause, seit er sich in die Musikerin Babette verliebt hat. Doch die will in ein paar Tagen die Stadt verlassen. Die Freunde Steini und Jenny haben zwar ein gemeinsames Kind, aber Steini fühlt sich noch zu jung für ein geregeltes Familienleben und steigt lieber jedem Rock hinterher, worunter nicht nur Jenny leidet. In dieses Beziehungsgeflecht schlägt Jan ein wie ein Stein, den man in einen Teich geworfen hat. Der Zuschauer bekommt reichlich Zeit, den Wellen zuzuschauen, wie sie das Umfeld erreichen. Warum Jan einst das Weite suchte, warum Frank ihn nicht aufhielt, erfährt man nicht, warum Jan jedoch zurückgekehrt ist, weiß man spätestens, wenn man das erste Mal in das Gesicht von Bibiana Beglau blickt. Der Kameramann Florian Hoffmeister hat mit seinem 2005 in Locarno prämierten Spielfilmdebüt einen stillen und beobachtenden Film gedreht, der mit seiner etwas pathetisch behaupteten Ernsthaftigkeit und Melancholie aus einer anderen Zeit, aus den späten 1970er-Jahren, zu stammen scheint. Mit dem ausgestellten Beharren auf „Leerstellen“, auf blinden Flecken in der Figurenpsychologie und der dennoch forcierten Selbstbefragung der Figuren ist „3° kälter“ vielleicht manchmal etwas zu larmoyant ausgefallen, vermag aber dem Eindruck der Bedeutsamkeit bloß suggerierenden Selbstgefälligkeit durch ein hervorragendes Darstellerensemble zu begegnen. Fernab der glänzenden Metropolenfassaden mit ihrem dröhnend hippen Werbe-Chic und den Szene-Aufgeregtheiten scheint der bundesdeutsche Alltag noch immer bleiern und trist. Die Figuren verhalten sich zu ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen aufreizend provisorisch und unverbindlich mittels einer bis weit ins vierte Lebensjahrzehnt verlängerten Adoleszenz. Fast schon schmerzhaft skizziert Hoffmeister mit seinem Film den Grauschleier des Provinziellen. Es ist ein unentschlossenes Hadern mit den eigenen Möglichkeiten, eine grundsätzliche Einsamkeit, die sich hier von Generation zu Generation weiter vererbt. Mit den Worten Hildegard Knefs stellen sich die Figuren hier permanent nur eine einzige Frage: „Wie viele Menschen waren glücklich, dass du gelebt?“ Die Antworten darauf fallen höchst unterschiedlich aus, doch das dahinterstehende Problem ist generationenübergreifend: Die Drogen und Ausflüchte mögen sich ändern, doch letztlich hilft nur die Flucht gegen die einsickernde Tristesse, die aus der Stagnation erwächst. In „3° kälter“ sind die „angesagten Clubs“ eher leer, und die Tänze darin ähneln autistischen Ritualen. Insofern ist „3° kälter“ auch weniger ein Coming-of-Age-Film als vielmehr eine umfassende Studie über Entfremdung, die keine wohlfeilen Ratschläge bereithält, sondern auch formal nachdrücklich Salz in offene Wunden reibt.
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