In den Süden

Drama | Frankreich/Kanada 2005 | 105 Minuten

Regie: Laurent Cantet

Haiti Ende der 1970er-Jahre: Für die Einheimischen ist die Insel unter dem Regime von "Baby Doc" Duvalier ein Gefängnis, für Dollar-Touristen ein Paradies. Zwei alternde Frauen kaufen sich die Liebe eines 18-jährigen Schwarzen und stehen, als dieser von Schergen des Diktators ermordet wird, vor einem Scherbenhaufen. Der von zwei exzellenten Schauspielerinnen getragene, mehrfach kodierte Film wertet das, was er zeigt, nicht moralisch. Gerade durch die vage Gleichordnung der Beobachtungen gelingen ihm kluge Bilder für die komplexen emotionalen und sozialen Beziehungen. Prägnante Nebenhandlungen und eingestreute Interview-Passagen vertiefen die Beobachtungen ins Verallgemeinerbare. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
VERS LE SUD
Produktionsland
Frankreich/Kanada
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Haut et Court/France 3 Cinéma/Les Films Séville/Studio Canal
Regie
Laurent Cantet
Buch
Robin Campillo · Laurent Cantet
Kamera
Pierre Milon
Schnitt
Robin Campillo
Darsteller
Charlotte Rampling (Ellen) · Karen Young (Brenda) · Louise Portal (Sue) · Ménothy Cesar (Legba) · Lys Ambroise (Albert)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Alamode (1:1,85/16:9/Dolby Digital 5.1)
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Diskussion
Den älteren Frauen, die in den späten 1970er-Jahren ihren Urlaub in der gepflegten Hotelanlage „Le Petit Anse“ auf Haiti verbringen, erscheint dies wie ein Ausflug ins Paradies. Sie sind vergleichsweise wohlhabend, und die attraktiven, jungen Einheimischen stehen stets zu sexuellen Dienstleistungen bereit. AIDS ist noch kein Thema. Ellen, 55-jährige Professorin für französische Literatur aus Boston, bringt es einmal auf den Punkt, als sie davon spricht, dass eine Frau ihres Alters zu Hause nur noch für typische Loser interessant sei – oder für Männer, die von ihren Frauen betrogen werden. Im Vergleich zu den jungen Haitianern erinnern die weißen Männer vor Ort an „rote Wale“. Ellen hält es mit Françoise Sagan: „Wenn ich alt bin, werde ich junge Leute bezahlen, mich zu lieben. Denn die Liebe ist das Süßeste, das Lebendigste und das Sinnvollste vor allen anderen Dingen.“ Der schönste der einheimischen Liebhaber ist der 18-jährige Legba, der Frauen wie Ellen oder der frisch geschiedenen Brenda professionell das Gefühl gibt, noch immer begehrenswert zu sein. Brenda kehrt zurück, weil sie auf Haiti vor drei Jahren mit Legba ihren ersten Orgasmus erlebte. Dafür bekommt dieser Geschenke, Mahlzeiten, die relative Sicherheit der Hotelanlage und vielleicht den Traum, eines Tages die Insel verlassen zu können. Denn das Leben auf Haiti jenseits der Hotelanlage ist gefährlich: Die Diktatur von „Baby Doc“ Duvalier geht im Chaos unter, auf den Straßen marodieren Soldaten, Geheimpolizei und Gangsterbanden, die herrschende Armut ist skandalös. Regisseur Laurent Cantet gelingt es mustergültig, das Private (hier: Körper, Sehnsüchte, Gefühle) mit dem Politischen (hier: Post-Kolonialismus, Kapitalismus, Rassismus, Prostitution) zu verbinden, ohne dabei in Plattitüden zu verfallen. In seinen früheren Spielfilmen „Ressources humaines“ (auch „Der Jobkiller“, fd 34 942) und „Auszeit“ (fd 35 621) hatte er von professionellen wie auch von privaten Rollenkonflikten erzählt, diesmal wendet er sich gleich drei „Leerstellen“ des westlichen Imaginären zu: der Frau, dem Anderen (Farbigen) und dem Süden, der Dritten Welt. „In den Süden“ ist ein Film, dessen Suche nach emanzipatorischen Blickdramaturgien zur Repräsentation des weiblichen Begehrens und des Anderen der Zeit verhaftet bleibt, in der er spielt: den späten 1970er-Jahren. Auch dies könnte erklären, warum Cantet seinen Film in eine historische Distanz rückt, obwohl dieser dann keinen Ehrgeiz zum Kostümfilm entwickelt. Dabei argumentiert er nicht etwa thesenartig, fängt vielmehr sehr subtil die unwirkliche Atmosphäre in der Hotelanlage und ihrer Umgebung ein, deren Luxus und utopische Libertinage ein Tanz auf dem Vulkan sind. Die Gewalt der Verhältnisse ist permanent präsent, muss deshalb gar nicht erst explizit gezeigt werden. Gleich zu Beginn, als Brenda am Flughafen ankommt, wird man Zeuge eines Gesprächs zwischen einer Einheimischen und dem Hotelangestellten Albert, in dem die Mutter darum bittet, ihre 15-jährige Tochter möge bitte ins Hotel „gerettet“ werden, damit sie nicht eines Tages gewaltsam zum Lustobjekt der Herrschenden auf der Insel werde. Eine Parallelhandlung zeigt eine Jugendfreundin Legbas, die zur Mätresse eines mächtigen Mannes auf der Insel wurde, und belegt so die Wahrscheinlichkeit der mütterlichen Vorahnungen. Wiederholt wird der Film zeigen, dass Menschenleben auf Haiti nicht viel wert sind, etwa wenn es Legba nur mit Mühe und Not gelingt, seinen kleinen Bruder vor bewaffneten Männern zu schützen, die die Bevölkerung tyrannisieren. Cantet wertet das, was er zeigt, nicht moralisch, aber gerade durch die vage Gleichordnung der Beobachtungen gelingen ihm kluge Bilder für die komplexen emotionalen und sozialen Beziehungen, die hier verhandelt werden. Prägnante Nebenhandlungen und eingestreute Interview-Passagen mit den drei Protagonistinnen Ellen, Brenda und Sue vertiefen dabei die Beobachtungen ins Verallgemeinerbare. Der mehrfach kodierte Film eröffnet eine ganze Reihe gleichberechtigt schlüssiger Lesarten: Oberflächlich eine Parabel auf die Globalisierung ebenso wie eine Auseinandersetzung mit dem (Sex-)Tourismus, ist der Film aber zunächst eine Plattform für die Träume von älteren Frauen, die auf ihr sexuelles Begehren jenseits von Familie nicht verzichten wollen. Der Film teilt über weite Strecken deren Perspektive, weshalb ganze Wirklichkeitskomplexe ausgeblendet bleiben. Erst nach und nach registriert die Kamera, dass sich im Hotel auch Männer und Paare tummeln; die Ausflüge nach Port-au-Prince eröffnen bestenfalls Impressionen einer sozialen Wirklichkeit, zu der die Touristinnen keinen Zugang erhalten (wollen?). Insbesondere Legba bleibt im Verlauf des Films ein unbeschriebenes Blatt, eine Person, die lediglich auf die anderen Figuren zu reagieren scheint. Konsequent erzählt der Film von den komplexen Beziehungen zwischen „zwei Gruppen von ‚Dominierten‘, die sich gegenüber stehen und ihre Frustrationen und Sehnsüchte gleichermaßen teilen“ (Cantet). Die Machtverhältnisse innerhalb dieser Beziehungen sind fragil und basieren darauf, dass bestimmte Regeln nicht gebrochen werden. Das Auftreten der Paare in der Öffentlichkeit ist unterkühlt, weil eigentlich obsolet. Legba wird zwar auf dem Hotelgelände geduldet, im Normalfall aber vom Personal nicht bedient, ja schlicht übersehen. Dass das, was „Le Petit Anse“ auszeichnet, einen gewissen Rahmen in der Öffentlichkeit nicht überschreiten darf, wird klar, als Brenda gleich mehrfach gegen die unausgesprochenen Regeln verstößt: Als sie sich beim Tanzen an den Rand der Ekstase treiben lässt, mahnt Legba die Band zur routinierten Rumba; und als sie mit Legba zum Shoppen in die Stadt fährt, ignoriert sie die geforderte Zurückhaltung in der Öffentlichkeit. Später lässt sie sich auf der Suche nach Legba allein durch das Nachtleben der Stadt treiben und landet gleich beim nächsten Mann. Der Preis für dieses beschädigte Paradies ist schmerzhaft: Als eines Morgens Legbas Leiche am Strand gefunden wird, würden seine trauernden „Freundinnen“ gerne Teil seiner Geschichte sein. Doch der ermittelnde Polizeiinspektor hat kein Interesse an den kleinen Dramen, die sich zuvor im Hotel abgespielt haben. Mit dem Satz „Touristen sterben nie!“ verweigert er den Frauen ihren Platz in der Geschichte und somit generell die Anerkennung ihrer Existenz. Insofern ist „In den Süden“ (auch) in mehrfacher Hinsicht eine Gespenstergeschichte. Dazu passt, dass Brenda am Schluss nicht in die USA zurückkehrt, sondern sich von exotischen Versprechungen wie Guadeloupe, Bermuda, Belize locken lässt. Wer denkt dabei nicht an Jonathan Harkers letzten Ritt in die Welt in Werner Herzogs „Nosferatu – Phantom der Nacht“ (fd 21 118)?
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