Drama | Schweiz/Deutschland 2006 | 96 Minuten

Regie: Thomas Imbach

Ein Berliner Regisseur nistet sich in einer Hütte am Fuß des Matterhorns ein und versucht, die Beziehung zu seiner Ex-Frau und seinem kleinen Sohn wieder aufleben zu lassen. Die Geschichte eines Exzentrikers in der Lebenskrise, der eine neue Chance erzwingen will und erneut an den eigenen Unzulänglichkeiten scheitert. Trotz des Sujets lassen die Regie und das exaltierte Spiel des Hauptdarstellers keine Intimität zu, sondern halten den Zuschauer auf Distanz. Dazu tragen auch zahlreiche Brüche in der Inszenierung bei, die zugleich als ironische Seitenhiebe auf die Auswüchse des Massentourismus in der Schweiz zu verstehen sind. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LENZ
Produktionsland
Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Bachim Film/Schweizer Fernsehen/Pandora
Regie
Thomas Imbach
Buch
Thomas Imbach
Kamera
Jürg Hassler · Thomas Imbach
Musik
Peter Bräker · Balz Bachmann
Schnitt
Thomas Imbach · Jürg Hassler · Patricia Stotz
Darsteller
Milan Peschel (Lenz) · Barbara Maurer (Natalie) · Noah Gsell (Noah) · Barbara Heynen (Tanja)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Der Lenz ist da. Ein Lenz, der nicht weiß, was er tut. Überraschend taucht der geschiedene Filmemacher aus Berlin in den Walliser Alpen auf und will seinen Sohn besuchen. Die Ex-Frau fühlt sich, zu Recht, überrumpelt und ist wenig erfreut über den Minnesang und die spät an den Tag gelegten Vatergefühle. Doch bald erliegt sie dem Charme des Besuchers. Die Beziehung wird in der kuscheligen Hüttenatmosphäre bis zum Sex wieder aufgewärmt. Es folgen einige Tage des Glücks in der scheinbar heilen Welt am Fuße des Matterhorns. Dazwischen wühlt und wälzt sich Lenz fiebrig und ungestüm in den Schneemassen; fühlt die Lebenskrise im Nacken, die ihn schließlich einholt und von Kopf bis Fuß durchschüttelt. Auch der Kampf um die erneute Liebe der Ex-Frau scheitert: Lenz verliert zum zweiten Mal und gibt sich in der Eiseskälte Selbstmordgedanken hin. Thomas Imbachs „Lenz“ ist ein eitler Film. Bereits im Vorspann, mit Widmung und Dank an Imbachs Lebensgefährtin, macht er lar, dass es hier auch um die eigene Geschichte des gebürtigen Luzerner Filmemachers geht. Obwohl sich der Regisseur in groben Zügen an Georg Büchners literarische Vorlage hält, ist sein „Lenz“ die sehr persönlich gefärbte Spurensuche eines Künstlers in der Touristenhölle Zermatt. Die abgedroschenen Werbeargumente einer Massenindustrie werden von Imbach grausam ironisch inszeniert; Seilbahnen und Schneepflüge verstellen den Weg, Bernhardinerhunde laden die Touristen mit versoffenem Blick zur lustigen Momentaufnahme ein. Zugleich beweist der Film aber auch Mut – und eine eigene Identität. Der Autorenfilmer par excellence realisierte bereits frühere Werke wie „Well Done“ (fd 33 307) oder „Happiness is a Warm Gun“ (fd 35 605) mit größtmöglicher künstlerischer Freiheit; „Lenz“ geht noch einen Schritt weiter, ist ein bestechendes Puzzle aus Film und Video, Laien- und Schauspielerspiel, dokumentarischen und fiktionalen Sequenzen. Gelegentlich trällern sogar Mutter und Sohn schweizerdeutsche Volkslieder, oder es wird der Versuch unternommen, dort zu filmen, wo das wahre Leben beginnt: etwa, wenn Hauptdarsteller Milan Peschel authentische und völlig überraschte Touristen in den Film hineinzuziehen versucht. Barfuß und im Bademantel stakst er durch den Schnee und lädt den Geldadel vor Ort zu einer Tasse Tee ein oder lauert ihm in Zermatt auf. Ein eigenwilliger Blick auf die Schweizer Realität, bereits in Imbachs früheren Werken präsent und schon fast sein Markenzeichen, ähnlich dem gestanzten Matterhorn auf der Toblerone-Schokolade. Das Matterhorn ist so allgegenwärtig, dass ihm im Abspann ein eigener Credit eingeräumt wird. Spektakuläre Aufnahmen, bei denen Flugzeuge in oder durchs Matterhorn fliegen, reflektieren das gewalttätige Innenleben der modernen Lenz-Figur. Lenz wartet auf den Frühling in seinem Leben, hofft unter Meter dickem Schnee verzweifelt auf Blüte und Veränderung. Sein eher passiver Kampf um das verlorene Glück einer Kleinfamilie, seine expressiven Versuche, in der fremden Winterlandschaft zu eigenem (körperlichen) Ausdruck zurückzufinden, zerren von Anfang an an den Nerven der Zuschauer. Peschels Spiel ist etwa so erholsam wie stundenlanges Anstehen vor dem Skilift, und hin und wieder wünscht man sich sehnsüchtig den Bernhardiner mit einem Fässchen Schnaps herbei. Obwohl Imbach fast trotzig jede emotionale Identifikation mit seiner Hautfigur verweigert, lebt sein Film auch von der sorgenvollen Spannung, was aus dem gestrandeten Filmemacher am Fuße des Matterhorns wird. Wer sich noch an die Schullektüre erinnert, weiß, dass die Geschichte um den Sturm-und-Drang-Dichter aus den Vogesen des 18. Jahrhunderts nicht gut ausgeht. Bei Büchners Lenz bricht die Welt auseinander, er kann sich nicht einmal durch den Tod befreien; ein Leben in der Verdammnis. Als sich der Wahnsinn von Imbachs Lenz gegen Ende lediglich als männliche Midlife-Crisis entpuppt, atmet man auf. Mit deutschsprachigen Künstlern, die zwar miese Laune haben, aber zumindest nicht den dringenden Wunsch verspüren, sich in der Schweiz lebendig begraben zu lassen, lässt sich noch ganz gut leben.
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