Night of the Shorts: Schöne Aussichten

- | Belgien/Deutschland 2002-2005 | 91 Minuten

Regie: Jonas Geirnaert

Kompilation von sieben Kurzfilmen zu den Themenkomplexen Wahrnehmung, Wahrnehmungsverschiebung und Wahrnehmungsfallen. Eine gelungene Zusammenstellung, die von der Fabulierlust und Experimentierfreude der Regisseure zeugt. Auch wenn Schwankungen im Niveau der einzelnen Filme bemerkbar sind, machen alle Beiträge neugierig auf die weiteren Arbeiten der jungen Filmemacher. - Titel der einzelnen Filme: 1. "Flatlife" (Belgien 2004, 11 Min.), 2. "Alemanya" (Deutschland 2002, 15 Min.), 3. "Neuschwanstein Conspiracy" (Dt. 2005, 15 Min.), 4. "Homeland Security" (Dt. 2005, 15 Min.), 5. "Herr Blumfisch explodiert" (Dt. 2003, 11 Min.), 6. "Nur ein Lächeln" (Dt. 2004, 10 Min.), 7. "Romance" (Belg. 2004, 14 Min.) - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Belgien/Deutschland
Produktionsjahr
2002-2005
Regie
Jonas Geirnaert · Savas Ceviz · Ingo Rasper · Donald Houwer · Matthias Schreck
Buch
Jonas Geirnaert · Savas Ceviz · Ingo Rasper · Donald Houwer · Marc Hotz
Kamera
Marco Uggiano · Marc Achenbach · Manuel Kinzer · Simon Bahlsen · Walther van den Ende
Musik
Ward Seyssens · Pierre Oser · Martina Eisenreich · Zitha-Manä · Jens Grötzschel
Schnitt
Jonas Geirnaert · Frank Brummundt · Marc Achenbach · Dorothee Bröckelmann · Matthias Geiges
Darsteller
Mehmet Yilmaz · Susanne Hoss · Thomas Morris · Peter Cotton · Steve Hudson
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.

Diskussion
Mit Kurzfilmen beginnen Regielaufbahnen. Wenn sich an der Qualität der frühen Kurzfilme der weitere Karriereverlauf ablesen lässt, steht Ingo Rasper eine große Zukunft bevor. Sein 15-minütiges Schelmenstück „Neuschwanstein Conspiracy“ ist das Highlight der Kurzfilmkompilation „Schöne Aussichten“, die auf durchweg ansprechendem Niveau sieben Filme zum Themengebiet Wahrnehmung, Wahrnehmungsverschiebung und Wahrnehmungsfallen zusammenbringt. Für den mehrfach ausgezeichneten „Neuschwanstein Conspiracy“ macht Rasper aus der Not eine Tugend und kreiert mit einfachen Mitteln ein faszinierend bizarres Filmuniversum irgendwo zwischen knallbuntem Märchenfilm und „Raumschiff Orion“. Der Film wechselt zwischen zwei Handlungsorten: dem Garten vor dem Weißen Haus und einem Touristenverkaufsstand vor dem Schloss Neuschwanstein. Auf dem grünen Rasen vor dem Weißen Haus sitzt der US-Präsident mit seiner Tochter am Kaffeetisch und „führt“ seine Amtsgeschäfte, indem er sich von Ministern und Beratern gut zureden lässt. Der Verteidigungsminister will mehr Geld, der Wahlkampfmanager aber möchte mit einer Traumhochzeit den Präsidenten aus dem Umfragetief hieven. Ein Bräutigam für die Tochter ist schnell gefunden. Für den Ort der Zeremonie hat der Diener des Präsidenten einen Vorschlag: das Schloss Neuschwanstein, wo ein Verwandter von ihm arbeite. Den Schauplatzwechsel inszeniert Rasper mit kurzen Zwischenschnitten: eine Scheibe dreht sich von oben nach unten; auf der einen Seite ist das Weiße Haus aufgeklebt, auf der anderen das Schloss Neuschwanstein. Als dann gegen Ende des Films Präsident und Tochter auf „die andere Seite der Erde“ fliegen, sieht man einen Modellhubschrauber über dem Weißen Haus flattern. Aus dem Off ertönt eine Stimme mit der Anweisung, die Erde möge gekippt werden. Und so gelangt der Präsidentenflieger nach Neuschwanstein. Solche Spielereien machen einen erheblichen Teil des Charmes von „Neuschwanstein Conspiracy“ aus. Man merkt, dass hier ein Filmfummler am Werk ist, ein Liebhaber des Metiers, der sich ausprobieren und austoben möchte. Gleichzeitig aber geht Rasper keineswegs willkürlich vor. Er belässt es nicht bei einer Camp-Attitüde, sondern liefert darüber hinaus ein freches satirisches Zeitporträt. Durch einen Schaltungsfehler geraten zwei Telefonate durcheinander. Statt der Bitte um Hochzeitsvorbereitungen erreicht die Mitarbeiter von Neuschwanstein der mit fünf Millionen Dollar dotierte Auftrag, das Schloss zu sprengen. Wenig später liefern US-Elitesoldaten versehentlich eine Hochzeitstorte in einem Terroristencamp ab. „Neuschwanstein Conspiracy“ ist eine wunderbare, bitterböse Farce. Aber keineswegs der einzige Film, der diese Kurzfilmsammlung sehenswert macht. Mit „Flatlife“, in dem Jonas Geirnaert die komplexen Wechselwirkungen zwischen vier Mietswohnungen in einem einzigen, viergeteilten Bild amüsant in Szene setzt, und „Herr Blumfisch explodiert“, worin Mathias Schreck im Stile eines „Aktenzeichen XY“-Beitrages vom Ableben eines biederen Angestellten berichtet, finden sich zwei süffisante, stilsichere Animationsfilme in der Auswahl. Donald Houwers „Homeland Security“ befasst sich kritisch mit der Sicherheitshysterie in Folge des 11. Septembers und zeigt, wie schnell ein Mensch kriminalisiert werden kann: Eine Greencard-Besitzerin möchte nach einem Heimaturlaub in Deutschland mit ihrem Baby zurück zu ihrem Mann in die USA. Nach den neuen Sicherheitsvorschriften sind ihre Papiere aber nicht länger gültig. Plötzlich findet sie sich auf der Seite der Illegalen wieder. Die Einreise wird ihr verweigert, und sie durchläuft die zermürbende Prozedur einer Abschiebung. Ein mitreißendes, aufwühlendes und hervorragend gespieltes Lehrstück über eine zutiefst gespaltene Gesellschaft. Die Deutsche ahnt für wenige Stunden, wie sich etwa Mahmud, der Held aus Savas Cevizs' „Alemanya“ fühlen muss, der von Schleppern um sein Geld betrogen wird und dann im Kofferraum eines deutschen Urlaubspaares doch noch nach Deutschland zu gelangen versucht. Von Sehnsüchten anderer Art handelt Douglas Boswells „Romance“, der drei ältere Frauen in einem Krankenzimmer zeigt. Eine der Damen genießt einen Parkblick und schildert den anderen, was sie dort sieht: ein junges, verliebtes Paar, das sich streitet, umarmt, hänselt und küsst. Diese „schöne Aussicht“ auf das Leben entpuppt sich später als Illusion, wenn auch als eine schöne. „Romance“ hält fotografisch und darstellerisch den guten Standard der anderen Beiträge. Aber er gehört zu jenen Kurzfilmen, die offensichtlich auf eine Pointe hin gestrickt sind. Wie fast immer bleibt der so vorbereitete Knalleffekt am Schluss hinter den Erwartungen zurück. Geradezu banal löst sich die konstruierte Verwirrung gegen Ende von Eva Demmlers „Nur ein Lächeln“ auf. Im dramaturgisch schwächsten Beitrag einer insgesamt gelungenen Kompilation sieht ein melancholischer Pizzabäcker jeden Tag eine schöne Frau an seinem Ladenfenster vorbeigehen und erfreut sich daran, wie sie ihm durch die Scheibe zulächelt. Ein Spiegeleffekt belehrt ihn später eines Besseren. Soviel plakative Sinnestäuschung müsste man abstrafen, spräche für Demmlers Film nicht, dass er ohne Dialog auskommt und vor allem, dass dies fast nicht auffällt.
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