Hänsel und Gretel (2005)

Kinderfilm | Deutschland 2005 | 75 Minuten

Regie: Anne Wild

Atmosphärisch dichte Adaption des bekannten Märchens der Brüder Grimm um zwei Geschwisterkinder, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt werden und in die Fänge einer bösen Hexe geraten. Regisseurin Anne Wild lässt sich konsequent ohne Modernisierung oder Verniedlichung auf den Stoff des Märchens und dessen besonderen, anti-psychologischen und anti-realistischen Erzählgestus ein. Eine spannende, atmosphärisch dichte "German Ghost Story", die paradigmatisch kindliche Ängste und deren Überwindung thematisiert, für kleinere Kinder allerdings verstörend sein könnte. - Ab 10.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Kinderfilm/ZDF/Moviepool
Regie
Anne Wild
Buch
Peter Schwindt
Kamera
Wojciech Szepel
Musik
Mari Boine
Schnitt
Dagmar Lichius
Darsteller
Sibylle Canonica (Hexe) · Johann Storm (Hänsel) · Nastassja Hahn (Gretel) · Henning Peker (Vater) · Claudia Geisler (Stiefmutter)
Länge
75 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 10.
Genre
Kinderfilm | Märchenfilm
Externe Links
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Diskussion
Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern; das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er das tägliche Brot nicht mehr schaffen.“ So beginnt das Märchen der Brüder Grimm, das von der Selbstbezogenheit einer lieblosen Stiefmutter, der tiefen Resignation eines gebrochenen, charakterschwachen Vaters und dem Schicksal zweier Kinder erzählt, die unter extremen Bedingungen lernen, dass Furcht gemeistert werden kann und es nichts zu fürchten gibt außer der Furcht selbst. Im Kino ruhte dieser beunruhigende, vor allem in seiner lakonischen Sprache bemerkenswert „grausame“ Märchenstoff nahezu 50 Jahre lang, nachdem er einst verwässert und stark abgemildert in pädagogisch schieflagigen Kitschversionen daherkam; dann entsann sich Christoph Hochhäusler der Fabel und platzierte sie in „Milchwald“ (fd 36 760) als zentrales Motiv für seine zeitgenössische Familientragödie, die einen beklemmenden Eindruck existenzieller Kälte und Ausweglosigkeit vermittelte. Dass das Grimmsche Märchen in seiner ursprünglichen Gestalt eine ungebrochen spannende, thematisch brisante Fabel geblieben ist, vermittelt nun Anne Wild („Mein erstes Wunder“, fd 35 936) sehr nachdrücklich – mit einem Kinderfilm, der kaum als harmlos-putzige Unterhaltung für die Kleinsten taugt, vielmehr mit Verve mitten ins Herz der Tragödie vordringt. Wer hätte gedacht, dass man dieses „gute, alte Märchen“ vor allem auch ohne Brechung oder Modernisierung so intensiv erzählen kann? Zwar kann auch Anne Wild nicht wirklich psychologisch glaubhaft machen, warum ein Vater bei aller sozialen Not seine Kinder widerstandslos „in den Wald“ schickt; auch dass die böse Hexe „einfach so“ verbrannt wird, sollte man eher als symbolisches Genremotiv verstehen, als pointierten Abschluss der existenziell tieflotenden Initiation zweier Kinder im permanenten Spannungsfeld von Verführung und Bedrohung. Andererseits: In einer Gegenwart, die von wachsender sozialer Armut und von zerrütteten Familien geprägt ist, braucht es ohnehin kaum einer weitschweifenden psychologisierenden Herleitung – die Chiffren des Märchens und die aktuellen Signale sind auf ernüchternde Weise deckungsgleich. So resultieren aus den aus der Märchenvorlage exakt übernommenen Extremsituationen weitgehend nachvollziehbar und glaubwürdig kindliche Ängste und Sorgen, die sich nicht nur als spannendes Abenteuerkino mit Substanz erschließen. Was man bislang eher aus chinesischen Gespenstergeschichten kannte – wabernde Schatten im Unterholz, das Rauschen des Windes im Geäst, die undurchdringliche Finsternis „lebender“ Wälder –, das wird hier zur visuell eindrucksvollen Variante einer „German Ghost Story“, in der Mut, kindliches Durchsetzungsvermögen und Geschwisterliebe über Not und Ungerechtigkeit triumphieren. Dabei verbindet sich die eindrucksvolle naturalistische Kulisse des Thüringer Waldes mit den „weltentrückten“ Klängen der norwegisch-samischen Musikerin Mari Boine, deren künstlerische Bandbreite zwischen verletzlichen Folksongs und repetitiver Schamanentrance einen reizvollen Kontrapunkt zu den oft exakt adaptierten Dialogen setzt: „Ach, Vater, sagte Hänsel, ich sehe nach meinem weißen Kätzchen, das sitzt oben auf dem Dach und will mir Ade sagen.“ Nur sporadisch ist in dieser grimmigen Mär Platz für lindernden Humor, etwa wenn Hänsels Bauch immer stattlicher und runder wird; dafür gibt es dank Sibylle Canonica eine äußerst schillernde Hexe, lustvoll interpretiert, zerrissen zwischen den Extremen: schön und hässlich, leidenschaftlich und zerstörerisch, eine Verführerin, die mit ihrer Zauber- wie Kochkunst eine Anziehungskraft besitzt, die nur allzu trügerisch ist. Das alles mündet wohltuender Weise nie in belehrende Zeigefinger-Pädagogik, sondern bleibt sich und den Brüdern Grimm bis zum (guten) Ende treu. „Mein Märchen ist aus“, heißt es dann bei denen, „dort läuft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine große Pelzkappe daraus machen.“
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