Leben und Sterben in Sarajewo

Dokumentarfilm | Frankreich 1993 | 75 Minuten

Regie: Radovan Tadic

Dokumentarfilm, der einen sehr persönlichen Blick auf das "alltägliche" Leben in der belagerten Stadt Sarajevo im Winter 1992/93 wirft, wobei es weniger die Bilder des Krieges als die der Menschen sind, die einen nachhaltigen Eindruck davon vermitteln, was es heißt, unter den schweren Bedingungen zu (über-)leben. Der Film geht weit über die gewohnte Kriegsberichterstattung hinaus und macht dabei um so stärker die Schrecken des Krieges direkt erfahrbar. Im Überlebenswillen der Menschen dokumentiert er die Hoffnung, daß das Leben stärker ist als der Tod. (Preis der Ökumenischen Jury in Leipzig 1993) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LES VIVANTS ET LES MORTS DE SARAJEVO
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Archipel 33/La Sept/arte
Regie
Radovan Tadic
Buch
Radovan Tadic
Kamera
Franck Moatti · Radovan Tadic
Musik
Samuel Barber · Dmitri Schostakowitsch
Schnitt
Elisabeth Kapnist · Yann Dedet
Länge
75 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Wer kennt nicht die Klagen, daß man die ständigen Fernsehbilder von einschlagenden Granaten und zerfetzten Körpern aus Sarajevo nicht mehr sehen könne und man diesen ganzen Krieg im ehemaligen Jugoslawien sowieso nicht mehr verstehe? Der in Zagreb geborene und seit 25 Jahren in Paris lebende Filmemacher Radavon Tadic hat eine Dokumentation gedreht, die nichts erklärt, sich nicht mit der Schuldfrage beschäftigt, keine Antworten auf die Schuldfrage gibt, dafür aber Bilder liefert, wie man sie hierzulande bisher nicht gesehen hat. Ein persönlicher, subjektiver Blick auf das alltägliche Leben (und Sterben) im belagerten Sarajewo im Winter 1992/93. Tadic beobachtet mit der Videokamera zerschossene Fassaden, Menschen, die aus Angst vor Heckenschützen im Laufschritt über die Straßen hasten. Er besucht Familien, die sich in ihren Wohnungen um einen einzigen Ofen drängen; er ist bei der Hochzeit eines jungen Paares dabei, folgt einem 15jährigen Jungen namens Jasmine auf der Suche nach Brennholz. Und er beobachtet Ärzte und Helfer im Krankenhaus: beim Versorgen von Verletzten, beim Amputieren von Gliedmaßen, aber auch bei ihrem Versuch, eine kleine Geburtstagsfeier zu improvisieren.

Letztlich aber sind es weniger die Bilder als die Geschichten, die diese Menschen erzählen, die einen Eindruck davon vermitteln, was es heißt, unter diesen Bedingungen zu (über-)leben. Da berichtet eine Krankenschwester, daß sie zu ihrem Verlobten seit sieben Monaten keinen Kontakt mehr habe, obwohl er nur zehn Minuten entfernt wohne - allerdings auf der serbischen Seite. Und eine Studentin kann es noch immer nicht fassen, daß ihre ehemalige Freundin vor kurzem als Heckenschützin enttarnt wurde, die auf ihre einstigen Nachbarn schoß. Ihre Frage "Wie werden wir uns je wiederbegegnen?" macht deutlich, daß für die Bewohner Sarajevos mit dem Schweigen der Waffen der Krieg noch lange nicht beendet sein wird. All diese Geschichten werden nüchtern protokolliert und nur ab und an mit einem (in der deutschen Fassung) emotionslos gesprochenen Kommentar versehen, in dem Tadic in knapper Form auch seine eigene Situation reflektiert: ein privilegierter "Kriegs-Tourist", der wie die internationale Journalisten-Schar im "Holiday Inn" wohnt und jederzeit wieder ausreisen kann, wenn er genug gesehen hat.

In einigen Sequenzen führt Tadic einem auch als Kinozuschauer schlagartig jenen einem innewohnenden Voyeurismus vor Augen, wenn sein Film sich auf einem schmalen Grat bewegt. So beispielsweise, wenn er Jasmine zu einer Wasserstelle folgt und die beiden mehrmals Stellen passieren müssen, die im Sichtfeld serbischer Scharfschützen liegen. Der gefährliche Gang wird unwillkürlich zum filmischen Thriller oder, besser gesagt, zu einem Stück Reality-TV, das einen als Zuschauer unwillkürlich in eine perverse Lage zwingt Einerseits hofft man, daß nichts passiert, und gleichzeitig wartet man darauf, daß gleich der Junge getroffen wird oder das Bild kippt, weil es den Mann mit der Kamera erwischt hat.Eine Sequenz, deren dokumentarische Legitimität gleichwohl außer Frage steht und die gleichzeitig demonstriert, daß es oft nicht die Bilder, sondern die ihnen verbundenen Interessen sind, die über Qualität und Gewicht eines Films entscheiden. Und diese Dokumentation ist fraglos wichtig, nicht zuletzt durch die schlichte Tatsache, daß die Opfer, die in der gängigen Berichterstattung nur als anonyme Masse präsent sind, hier Namen und Geschichte(n) haben.
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